Navigation mit Access Keys

Riesenkastanien: Alter und Gesundheitszustand

Hauptinhalt

  

Wie alt sind sie?

Die Datierung von monumentalen Kastanienbäumen ist eine aufwendige Aufgabe, die mit verschiedenen Schwierigkeiten verbunden ist:

  • Die Vielfältigkeit der Grundstruktur des Stammes
    Die Wachstumsrate des Umfangs ist je nach Struktur des Stammes sehr unterschiedlich. Bei gleichem Wachstumsrhythmus der Jahresringdicke wird die geringste Vergrösserung des Baumstammumfangs durch eine monochrome Struktur mit perfekt kreisförmigem Querschnitt erreicht. Tritt dagegen eine Gabelung in geringerem Abstand zum Boden auf, kann der Querschnitt des Stamms unterhalb der Gabelungsebene elliptisch sein, was in der Regel eine höhere Wachstumsrate impliziert.
    Schematisch können vier Grundtypen der basalen Stammstruktur unterschieden werden.
  • Die Komplexität der jahrhundertealten Stämme resultiert aus mehreren Wachstumsphasen, zwischen denen Erschöpfung und Traumata auftraten
    Die soeben beschriebenen Grundstrukturen können durch Erschöpfung und Traumata, die der Baum auf natürliche Weise erleidet (Brüche, Abbrechen der Äste, pathogene Angriffe) oder durch anthropogene Eingriffe (Beschneiden, Köpfen) noch komplizierter werden. Diese Traumata beeinflussen auch die Wachstumsrate des Baumes und führen zu einer Abfolge unterschiedlicher Wachstumsphasen (siehe Beispiel für zweiphasiges Wachstum, weiter unten).
  • Die vielfältigen Hindernisse beim Kernholzbohren und Zählen der Jahresringe
    Die üblichen Instrumente zur Entnahme von Holzproben funktionieren bis zu einer Tiefe von 40 cm ziemlich gut. Jenseits dieser Schwelle treten zahlreiche Komplikationen auf, und auf jeden Fall ist es praktisch unmöglich, mit einem normalen Presslerschem Zuwachsbohrer über eine Tiefe von 80 cm hinaus zu bohren.
    Komplette ringförmige Sequenzen, die alle Wachstumsphasen eines Baumes abdecken, sollten an der Basis des Stammes liegen. In Wirklichkeit haben jedoch fast alle alten Kastanienbäume grosse Hohlräume, und zwar vor allem in den unteren Teilen des Stammes. Nur für mittelgrosse Kastanienbäume besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass man einen Bohrkern mit kompletten Jahresring-Sequenzen extrahieren kann.

Trotz dieser Schwierigkeiten ist es uns in einigen Fällen gelungen, ziemlich genaue Datierungen auch bei Kastanien mit einem Stammumfang von mehr als 7 Metern zu erhalten. Um diese positiven Ergebnisse zu erzielen, mussten wir geeignete Bäume finden, sowie Baumklettertechniken und spezielle Probenentnahmegeräte einsetzen (siehe weiter unten).

 

Schätzung des Alters mittelgrosser Kastanienbäume

Bei mittelgrossen Kastanienbäumen, d.h. mit einem Umfang von bis zu 4-5 Metern, ist es manchmal möglich, genaue Datierungen zu erhalten, indem man normale Extraktionstechniken an einem Bohrkern mit einem Presslerschem Zuwachsbohrer einsetzt und dann die Jahresringe zählt.

Die folgenden drei Bilder zeigen einige Beispiele von mittelgrossen Kastanien, für die wir das Alter angeben konnten.

Standort

Monti di Daro

Monti di Daro

Monti di Daro

Höhe

779 m.ü.M.

777 m.ü.M.

744 m.ü.M.

Umfang

2,69 Meter

3,38 Meter

4,32 Meter

gezählte Jahre am Bohrkern

148 Jahre

177 Jahre

308 Jahre

fehlende zentrale Ringe

5-13

1-2

1-2

Alter

159 ± 5 Jahre

184 ± 5 Jahre

318 ± 5 Jahre

Entstehungsjahr

1844 ± 5 Jahre

1819 ± 5 Jahre

1685 ± 5 Jahre

 

Datierungsbeispiel eines monumentalen Kastanienbaums

Auf dem Monti di Malmera, im Gebiet von Bellinzona, konnten wir mit einer speziellen Kettensäge, die mit einem Blatt von gut einem Meter Länge ausgestattet war, 3 Keilabschnitte entnehmen, die den gesamten Radius des Stammes in einer durchschnittlichen Höhe von 5 Metern über dem Boden darstellen. Diese Proben wurden einem monumentalen Kastanienbaum entnommen, ohne seine Vitalität zu beeinträchtigen, und zwar am oberen Teil des Stammes, der mittlerweile trocken und seit einiger Zeit entrindet war, unmittelbar unter einer Köpfungsfläche aus dem Jahr 1996.

Nach dem Grobschliff und der Endbearbeitung mit einem sehr feinen Schleifband wurde eine polierte, glasige Oberfläche erzielt, auf der die Adern und Jahresringe gut sichtbar sind.
Für jeden der beiden so vorbereiteten Abschnitte wurde die Dicke der Jahresringe mit einer speziellen Vorrichtung gemessen, wodurch sich dendrochronologische Kurven von gut 496 Jahren ergeben, die zwar untereinander synchronisierbar, aber nicht absolut datiert werden können (floating tree-ring sequences).

Um eine absolute Datierung dieser langen Sequenzen zu realisieren, haben wir einige gezielte Proben mit einem normalen Presslerschen Zuwachsbohrer in den unteren Bereichen des Stammes, in denen die Rinde noch lebendig erscheint, vorgenommen.
In mindestens einem Fall konnten wir eine ringförmige Abfolge an der Basis des Stammes mit einer sicheren Verankerung in der Gegenwart erhalten. Die Synchronisation zwischen dieser ringförmigen Kurve, die sich bis zum Jahr 2002 erstreckt, und den beiden Kurven von fast 5 Jahrhunderten, die sich aus den Keilabschnitten ergeben, wurde erfolgreich mit Hilfe von Software durchgeführt, welche einen grafischen und statistischen Vergleich zwischen den ausgewerteten Abschnitten ermöglicht.

Die vorgeschlagene und in der folgenden Abbildung grafisch dargestellte Synchronisation weist eine signifikante statistische Korrelation auf und erlaubt eine zuverlässige Datierung der langen Kurven zwischen 1496 und 1991 n. Chr.

 

Die Untersuchungen an dem monumentalen Kastanienbaum von Marena haben uns daher zu einem Ergebnis von wichtiger Bedeutung geführt: Zum ersten Mal können wir das Alter eines Exemplars dieser Grösse mit bemerkenswerter Genauigkeit schätzen. Jetzt wissen wir mit Sicherheit, dass 1496 n. Chr., 4 Jahre nach der Atlantiküberquerung von Christoph Kolumbus, der apikale Trieb eine Höhe von etwa 5 Metern über dem Boden erreichte und den zentralen Ring bildete, der in den Keilabschnitten vorhanden und auf dem Foto links abgebildet ist.

 

Wenn man annimmt, dass die ursprüngliche Entwicklung des Baumes ohne Traumata (Beschneiden) oder Verlangsamungen (verursacht durch Nachbarbäume) erfolgte, kann die erforderliche Zeit, um bis auf diese Höhe zuwachsen, zwischen 3 und 13 Jahre geschätzt werden. Daher lässt sich ableiten, dass dieser Kastanienbaum wahrscheinlich in dem Jahrzehnt von 1483 bis 1493 gepflanzt wurde. Wir können dieses Zeitraum auch mit dem Datum 1488 ± 5 oder mit dem Alter von 516 ± 5 Jahren angeben. Dies ist der erste Beweis, dass die monumentalen Kastanienbäume des Tessin aus dem späten Mittelalter stammen und mehr als fünf Jahrhunderte alt sein können.

 

Die ältesten Kastanienbäume sind oft übel zugerichtet

Dank einer aufwendigen Untersuchung vor Ort haben wir 80-90% aller im Untersuchungsgebiet vorhandenen Kastanienriesen entdeckt und gezählt, das heisst 310 monumentale Kastanienbäume gegenüber einer Gesamtpopulation, die wir auf 340 bis 390 Exemplare schätzen. Es muss jedoch gesagt werden, dass die Gesundheit dieser Bäume im Allgemeinen ziemlich besorgniserregend ist. Wenige Exemplare sind noch im Vollbesitz ihrer Kräfte, mit einer bemerkenswerten vertikalen Entwicklung, fester Struktur, gesunder Rinde und üppigem Baumkrone. Das Foto unten links zeigt einen aussergewöhnlichen Kastanienbaum voller Lebenskraft, der wie ein kolossaler Obelisk in die Höhe steigt. Rechts sehen wir dagegen das entgegengesetzte Extrem bzw. den häufigsten Fall eines Kastanienbaums, der stehend, mit stark reduzierter vertikaler Entwicklung, fast vollständig entrindet und mit einer stark zerbrechlichen Struktur abgestorben ist.

 

Man könnte meinen, dass diese so übel zugerichteten Exemplare für die Zählung und Forschung von zweitrangigem Interesse sind: Nichts ist falscher als das! Diese Baumgespenster können beispielsweise ihren inzwischen abgestorbenen Stamm für Kernholzbohrungen und Probeentnahmen verschiedener Art zur Verfügung stellen, so dass man sehr wertvolle Daten erhält, ohne die noch lebenden Baumriesen zu beschädigen. Die Untersuchung dieser Exemplare, die sozusagen ihr Endstadium erreicht haben, erlaubt es uns zudem, die lange Odyssee der Existenz eines monumentalen Kastanienbaums voll zu erfassen. Darüber hinaus folgt ihre räumliche Lage den gleichen Regeln wie diejenige der vitaleren Exemplare und somit können sie zum Verständnis der vielfältigen Verteilungsmuster beitragen. Wir sollten uns auch an den grossen ökologischen Wert dieser Strukturen erinnern, insbesondere im Hinblick auf die Erhaltung der biologischen Vielfalt.

Aber vor all diesen wissenschaftlichen Zielen müssen wir einen Wert erkennen, der eng mit unserer menschlichen Natur verbunden ist: die Schönheit und Ausdruckskraft dieser Bäume!!

 

Gesundheitsindex

Während der Bestandsaufnahme haben wir den Gesundheitszustand jedes einzelnen Exemplars bewertet, indem wir einen Gesundheitsindex zwischen 0 (vollständig toter Baum) und 4 (vollständig gesunder Baum) vergaben. Also, fast 35% der mehr als 300 gezählten Baumriesen weisen auf einen erheblich beeinträchtigten Gesundheitszustand hin (Gesundheitsindex zwischen 0 und 1). Hinzu kommen 25% mit einem Gesundheitsindex von 1,5, d.h. mit bereits deutlichen Verfallserscheinungen. Schlimmer noch, in den zwei Jahren der Untersuchung vor Ort haben wir erhebliche Fortschritte beim Verfall einiger Exemplare festgestellt.

 

Beim Nachdenken über dieses phytosanitäre Bild sind wir zu dem Schluss gekommen, dass die Langlebigkeit dieser Bäume nicht nur von den intrinsischen (genetischen) Eigenschaften der Art und einer gewissen Umweltverträglichkeit des Tessiner Territoriums abhängt, sondern zu einem grossen Teil auch von der Pflege, die im Laufe der Jahrhunderte von unzähligen Generationen von Züchtern erhalten wurde: mit anderen Worten, ohne regelmässiges Beschneiden, ohne das Entfernen der verrottenden Teile, ohne die Beseitigung der umgebenden spontanen Baum- und Strauchvegetation, ohne die Korrektur von Bodenerosionsphänomenen und ohne periodische Düngung des Bodens wären diese Bäume nie so alt geworden.

Es ist daher offensichtlich, dass sich der Gesundheitszustand dieser Bäume rapide verschlechtert: Es ist nicht so sehr ihr fortgeschrittenes Alter, das ihr Schicksal besiegelt, in Wirklichkeit ist ihre Vernachlässigung der wichtigste Faktor für ihren Verfall. Es reichten 50 Jahre der Vernachlässigung der Berge mit all ihren Folgen des Verfalls der Landhäuser, des Verschwindens der Wege, des spontanen Vordringens der Wälder und der Verminderung der Weide- und Ackerbauaktivitäten in den Berggebieten, um dem Erbe der jahrhundertealten Kastanienbäume im Tessin quantitativ und qualitativ erheblichen Schaden zuzufügen. Viele der noch verbliebenen Bäume sind dem Tod geweiht und werden allmählich verschwinden. Ein Teil kann dagegen noch gerettet werden, aber es ist unerlässlich, gezielte Eingriffe zu planen, um schnell alle für das Überleben dieser heimischen Bäume notwendigen Massnahmen zu ergreifen.

 

Beispiel für zweistufiges Wachstum

Ein klassisches Beispiel für zweistufiges Wachstum sind Bäume, die zu Lebzeiten eine Köpfung erfahren haben.
Die Struktur präsentiert sich dann als monoformaler Stamm, meist hohl, mit einer Krone aus Zweigen in Höhe der Köpfung. Durch die Platzierung von Tentakeln anstelle von Zweigen erinnert die Form des Stammes an bestimmte Hohltiere wie einige Seeanemonen oder Aktinien. Es handelt sich um eine zweiphasige Struktur, da dies nur mit mindestens zwei aufeinander folgenden Wachstumsphasen erreicht werden kann:

  1. Wuchs eines mächtigen, kreisrunden oder elliptischen, monoformalen Stammes (je nach Anordnung der ursprünglichen Verästelungen). Als Folge von Krankheiten an der Baumkrone oder einfach durch bewusste Entscheidung des Menschen wird irgendwann eine ernsthafte Aufästung mit Köpfung vorgenommen.
  2. Nach diesem Trauma beginnt eine zweite Phase des Wachstums. Der zentrale Hohlraum des Stammes beginnt sich zu zeigen oder weitet sich weiter aus, während am kreisrunden Rand der Schnittfläche zahlreiche und kräftige Triebe entstehen, die mit der Zeit die Form mächtiger Äste annehmen.


 

Bei einem Baum mit einer ähnlichen zweiphasigen Struktur wird es sehr schwierig, eine plausible Korrektur für das durch den Umfang angegebene Alter vorzuschlagen. Die einzige ziemlich sichere Tatsache ist, dass diese resultierende Struktur, wie sie in der vorherigen Zeichnung zu sehen ist, normalerweise nach der letzten Aufästung ein eher schnelles Wachstum des Umfangs mit sich bringt, auch wenn dies alles von der Anzahl und Vitalität der Baumkronentriebe abhängt. Wir wissen jedoch nicht, wie lange oder wie ernst die Erschöpfungen in der letzten Phase eines jeden Wachstumszyklus war. Vor der Köpfung könnte der Baum lange Zeit eine Wachstumsverlangsamung erlitten haben, die mit der fortschreitenden pathologischen Verschlechterung des oberen Teils des Stammes in Verbindung gebracht werden muss.

Die Beobachtung der Struktur kann uns daher nützliche Anhaltspunkte für die Altersabschätzung liefern, auch wenn die strukturelle Komplexität des alten Baumes in den meisten Fällen dazu führt, dass plausible Wachstumsszenarien stark voneinander abweichen.

 

Fallstudien zur Grundstruktur des Stammes

Die Grundstruktur des Stammes wird wesentlich durch das Vorhandensein oder Fehlen von Gabelungen und deren Höhe über dem Boden beeinflusst.

In der folgenden Abbildung sind einige Arten der Grundstruktur des Stammes schematisch dargestellt, die vom monoformalen Stamm mit kreisförmigem Querschnitt bis zum Doppelstamm, der sich nur an der Basis oberflächlich verbindet, über eine monoformale Struktur mit elliptischem Querschnitt gehen.

 

Der Einfluss der Struktur auf den Wert des Umfangs, der konventionell in einer Höhe von 1,3 Metern über dem Boden gemessen wird, kann wie folgt veranschaulicht werden:

 

In den vier aufgeführten Beispielen könnte das Alter des Baumes ungefähr gleich sein. Nimmt man als Referenzfall einen Kastanienbaum mit einem runden, monoformalen Stamm von 450 Jahren und einem Umfang von 7 Metern, so könnte man für Bäume aus unserer Zeit aber mit unterschiedlicher Struktur eine Umfangszunahme von 8,4 Metern, 9,8 Metern und sogar 11,5 Metern im Extremfall eines nur oberflächlich zusammengewachsenen Doppelstammes schätzen.

Die Häufigkeit monoformaler Stämme nimmt mit zunehmendem Alter ab: Sie ist bei jungen oder ausgewachsenen Bäumen die mit Abstand häufigste Struktur, bei alten Kastanienbäumen mit einem Umfang von mehr als 7 Metern wird sie selten. Recht häufig sind dagegen die elliptischen Strukturen mit grossen Unterschieden zwischen dem maximalen und dem minimalen Durchmesser. Eher selten ist schliesslich der Extremfall des minimal zusammengewachsenen Doppelstamms, wie die folgenden beiden Fotos gut zeigen.