Hauptinhalt
Wann bildet ein Baum neue Zellen? Und wie beeinflussen Umweltbedingungen diesen Vorgang? Antworten auf diese Fragen finden Forschende der WSL in Holzproben aus dem Lötschental.
Schwungvoll dreht Loïc Schneider am Rad der Schneidmaschine. Auf der Schnittfläche türmen sich hauchdünne Streifen eines Paraffinklotzes, der in der Maschine fixiert ist. Im Klotz eingebettet ist ein etwa ein Zentimeter langer Bohrkern aus dem Holz einer Lärche. Vorsichtig legt Schneider einen Streifen mit der Pinzette ins warme Wasserbad und fischt ihn sogleich mit einem Glasplättchen wieder heraus, um das Ganze zum Trocknen auf die Seite zu legen.

Schneider ist technischer Mitarbeiter im Jahrringlabor der WSL. Die Holzproben, die er schneidet, stammen aus dem Lötschental im Kanton Wallis. Seit 2007 entnehmen Mitarbeitende der WSL dort jede Woche kleine Bohrkerne von Lärchen und Fichten aus der Wachstumszone der Bäume. Hier bildet der Baum während der Vegetationsperiode laufend neue Zellen und legt so an Umfang zu. Gut vierzig Bäume auf fünf unterschiedlichen Höhenstufen werden derzeit beprobt. Sensoren bei den Bäumen messen die Standortbedingungen, etwa Temperatur und Feuchtigkeit von Luft und Boden. Weitere Messgeräte liefern Informationen dazu, wie viel Wasser die Bäume verdunsten.
«Wir wollen herausfinden, wie die Umweltbedingungen die Zellbildung und die Merkmale der Holzzellen beeinflussen, zum Beispiel die Dicke der Zellwände», erklärt Patrick Fonti, der die Untersuchungen leitet. Damit lassen sich Rückschlüsse auf die Funktion des Holzes ziehen – etwa, ob die Leitgefässe gross genug sind, um genügend Wasser vom Boden zu den Blättern zu transportieren. Insbesondere interessiert Fonti, welchen Einfluss veränderte Temperaturen auf den Zeitpunkt haben, zu dem die Zellbildung im Frühling beginnt. Letztendlich hoffen Fonti und seine Kollegen, Aussagen dazu machen zu können, wie sich der Klimawandel auf das Wachstum der Bäume auswirkt und ob sie mit den veränderten Umweltbedingungen zurechtkommen werden.
Das Lötschental eignet sich besonders gut, um den Einfluss der Klimaerwärmung auf Bäume zu untersuchen: Der Temperaturunterschied zwischen Baumgrenze und Talboden entspricht dem vorausgesagten Temperaturanstieg von 3 °C für die nächsten hundert Jahre. Mit den Holzbohrkernen von verschiedenen Höhenstufen lassen sich so Vergleiche ziehen, wie sich eine Veränderung der Temperaturen auf das Baumwachstum auswirkt. Seit mehreren Jahren reisen Fonti und weitere Mitarbeitende der WSL einmal pro Woche ins Wallis, um die Proben zu nehmen. «Der Aufwand ist enorm, aber er lohnt sich. Wir erhalten so eine zeitlich hochaufgelöste Datenreihe und können quasi zusehen, wie das Holz wächst und die Jahrringe gebildet werden. Mit so vielen Bäumen und über eine so lange Zeit hat das bislang noch niemand gemacht», sagt der Dendroökologe. Entsprechend gross ist darum das Interesse von Forschenden aus aller Welt, mit den Daten arbeiten zu können.

Zellen sichtbar gemacht
Bevor Fonti und sein Team die Holzbohrkerne untersuchen können, muss Schneider sie im Jahrringlabor der WSL präparieren. Dazu sind aufwändige Arbeitsschritte nötig, der Prozess dauert mehrere Tage. Vor dem Schneiden wird dem Holz Wasser entzogen, danach werden die Bohrkerne in Paraffin eingebettet, eine wachsartige Substanz, die bei Raumtemperatur fest ist. Dadurch sind die Holzstücke so fixiert, dass Schneider sie sieben Mikrometer dünn schneiden kann – rund zehn Mal dünner als ein durchschnittliches Menschenhaar. Die Holzzellen bleiben dabei intakt. Damit deren Bestandteile besser unterscheidbar sind, färbt Schneider die Mikroschnitte ein.
«Früher haben wir die Holzproben unter dem Mikroskop angeschaut und die Zellen von Hand gezählt. Heute erledigt das der Computer», erklärt Fonti. Er öffnet einen Scanner, der hundert Proben gleichzeitig verarbeiten kann. Die Maschine liefert hochaufgelöste Bilder, auf denen jede einzelne Zelle sichtbar ist. Die Bestandteile der Zelle – Lignin und Zellulose – sind dank dem Färben der Proben unterscheidbar. Eine Software übernimmt das Zählen und Ausmessen der Holzzellen und liefert Daten zu deren Aufbau.
Holz der Zukunft
Mit den bislang ausgewerteten Daten konnten Fonti und seine Kollegen zeigen, dass sich bei den Bäumen der Start des Zellwachstums pro hundert Meter Höhendifferenz um zwei bis drei Tage verschiebt. Anders ausgedrückt: Wird es ein Grad wärmer, startet die Wachstumsphase etwa fünf Tage früher. Dieser Startmoment ist insofern relevant, da dann der Baum beginnt, CO2 in seinen Zellen einzulagern – eine wichtige Grösse, mit der die Forschenden berechnen können, wie viel Kohlenstoff ein Baum aus der Atmosphäre binden kann (siehe Seite 10).
Noch sind nicht alle Holzbohrkerne aus dem Lötschental präpariert und ausgewertet. Sobald genügend Daten vorhanden sind, werden die Forschenden ein Modell entwickeln können. Dieses soll in Abhängigkeit der Standortbedingungen voraussagen, wie viel Holz ein Baum bildet, welche Struktur die Holzzellen und welche Eigenschaften das Holz haben wird – und ob der Baum überhaupt überleben kann, wenn es massiv wärmer oder trockener wird. Dazu kombinieren sie ihre Daten mit den Ergebnissen der klassischen Jahrringforschung.
Besonders gespannt ist Fonti auf die Proben vom Hitzesommer 2015, der im Holz seine Spuren hinterlassen hat. «Wir wollen herausfinden, wie die extreme Trockenheit die Struktur des Holzes beeinflusst hat.» Diese Daten werden 2020 ausgewertet.
(Lisa Bose, Diagonal 1/20)