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Drei Skitourengeher machen sich bereit für die Abfahrt über den Gipfelhang. Als der letzte von ihnen losfahren will, löst sich eine Schneebrettlawine. Seine beiden Kollegen werden erfasst und vollständig verschüttet. Sofort beginnt der Dritte mit der Suche. Schnell findet er mit seinem Lawinenverschütteten-Suchgerät das erste Opfer und gräbt es aus. Doch es zeigt keinerlei Lebenszeichen. Er versucht, es mit Herzdruckmassage und Beatmung zu reanimieren – ohne Erfolg. Die Minuten verstreichen, während das zweite Opfer noch immer unter dem Schnee liegt. Soll der Retter trotzdem die Reanimation des ersten Opfers fortsetzen? Oder soll er stattdessen den zweiten Verschütteten bergen, bevor es für diesen ganz sicher zu spät ist?

Das fiktive Beispiel verdeutlicht, in welchem Dilemma Helferinnen und Helfer stecken, wenn sie nicht alle Opfer eines Lawinenunglücks gleichzeitig retten können. «Solche Situationen sind eher selten, kommen aber immer wieder vor», sagt Jürg Schweizer, Leiter des SLF und der Forschungseinheit Lawinen und Prävention. In Ausbildungskursen zur Lawinenrettung wird häufig die Frage gestellt, was in einer solchen Situation am besten zu tun sei.
Nach einer offiziellen Empfehlung der Internationalen Kommission für alpine Rettung (IKAR) sollen bei Lawinenunfällen Opfer, die keine Lebenszeichen zeigen, mindestens 20 Minuten lang reanimiert werden. «Doch gibt es einen weiteren Verschütteten, sinken dessen Überlebenschancen derweil dramatisch», sagt Schweizer. Wann sollte also die Reanimation des ersten Opfers beendet und nach dem zweiten Opfer gesucht werden, um die Überlebenschancen beider zu optimieren?
Genau diese Frage beschäftigte den Schweizer Lawinenrettungsspezialisten Manuel Genswein schon länger. Gemeinsam mit ihm, weiteren Lawinenforschenden und Notfallmedizinern versuchte Jürg Schweizer in einer Studie, eine Lösung für das eingangs beschriebene Szenario mit zwei Verschütteten und einem Retter zu finden. Da keine Daten von Fallbeispielen existieren, führten die Forschenden eine sogenannte Monte-Carlo-Simulation am Computer durch – ein Novum in der Notfallmedizin. Diese ermittelt mithilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung den besten Zeitpunkt, wann die Wiederbelebung des ersten Opfers beendet und das zweite Opfer geborgen werden soll. Als Grundlage für die Simulation verwendeten die Forschenden existierende Daten zur Überlebenswahrscheinlichkeit von Verschütteten sowie zum Gesundheitszustand von Patienten nach einem Herzstillstand, die unterschiedlich lang reanimiert wurden.
Aktuelle Empfehlung überdenken
Das Ergebnis zeigte, dass bei einer Reanimation des ersten Opfers von einigen wenigen Minuten und anschliessender Suche des zweiten Opfers die Wahrscheinlichkeit am grössten ist, dass beide überleben. «Das bedeutet, dass eine 20-minütige Reanimation, wie sie offiziell empfohlen wird, in diesem Fall zu lang ist», sagt Schweizer. Er plädiert deshalb dafür, neue Empfehlungen zu erarbeiten. Als Grundlage dafür brauche es jedoch weitere Untersuchungen und bessere medizinische Daten, um die Ergebnisse der aktuellen Studie zu untermauern.
«In einer Notfallsituation eine Triage vorzunehmen, ist natürlich ethisch immer heikel», sagt Schweizer. Allerdings liesse es sich ohnehin nicht vermeiden, Entscheidungen zu treffen, und diese sollten dann so gut wie möglich sein. Den Grundsatz, die Überlebenswahrscheinlichkeit zu optimieren, wendet man heute schon an, wenn mehrere Retter mit Sonden nach einem Verschütteten suchen. Dabei wird so sondiert, dass sich Geschwindigkeit und Gründlichkeit der Suche die Waage halten, so dass die Chance möglichst gross ist, das Opfer lebend zu finden. (Claudia Hoffmann, Diagonal 2/18)