
Biodiversität
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Warum Biodiversität uns alle angeht
Der Mensch ist auf die Naturvielfalt angewiesen. Die Forschenden der WSL untersuchen, wie sie geschützt werden kann.
Vielfalt ist schön: Den meisten Menschen gefällt eine rot, blau, gelb und weiss getupfte Blumenwiese besser als ein endloser Acker, ein artenreicher, gut strukturierter Wald besser als einheitliche Fichtenpflanzungen, und viele freuen sich, wenn sie einen seltenen Vogel beobachten können. Abermillionen von Organismen aller Formen, Farben und Grössen bevölkern die Erde und bereichern unsere Erlebniswelt. Doch viele dieser Lebewesen sind heute gefährdet oder verschwinden in einem Tempo, wie es unser Planet noch nie gesehen hat. Deshalb sprechen Forschende bereits vom sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte.
Auch in der Schweiz steht es schlecht um die biologische Vielfalt. Die Hälfte der Lebensräume und ein Drittel der Arten sind gefährdet, deutlich mehr als in den meisten EU-Ländern, schreibt das Bundesamt für Umwelt (BAFU) 2017 im Bericht «Biodiversität in der Schweiz: Zustand und Entwicklung». «Insbesondere den ökologisch spezialisierten und seltenen Arten geht es nicht gut», sagt Rolf Holderegger, Leiter der WSL-Forschungseinheit Biodiversität und Naturschutzbiologie. Sie sind häufig auf besondere Lebensräume wie Trockenwiesen, Flach- oder Hochmoore angewiesen – und diese verlieren weiter an Qualität, oft auch an Fläche.
Alle drei Ebenen der Biodiversität sind betroffen: Arten, Lebensräume und die genetische Vielfalt, welche zentral für die Anpassungsfähigkeit und das langfristige Überleben aller Arten ist. Am düstersten ist das Bild im Landwirtschaftsland, wo intensive Nutzung und Nährstoffeinträge wertvolle Lebensräume beeinträchtigen. In den Wäldern sieht es besser aus, weil vielerorts mehr tote Bäume stehen oder liegen bleiben und der Wald naturnah genutzt wird.
Mehr als Honig
Es ist erwiesen, dass vielfältige Ökosysteme wichtige Leistungen, sogenannte Ökosystemleistungen, besser erbringen als einförmige: Wildbienen bestäuben Nutzpflanzen, Bodenorganismen sorgen für gesunde Böden, Wälder säubern Luft und Wasser, beeinflussen das Klima positiv und schützen vor Hochwasser und Lawinen. Der Verlust von Biodiversität verursacht volkswirtschaftliche Kosten: Für die EU werden diese bis im Jahr 2050 auf rund 4 Prozent des Bruttoinlandprodukts geschätzt.
Den Schutz der biologischen Vielfalt schreiben sowohl die Schweizer Bundesverfassung (Art. 78) als auch internationale Verträge wie die Biodiversitätskonvention (CBD) vor – aber nicht allein wegen Nutzen oder Kosten. «Die biologische Vielfalt besitzt für viele Menschen einen Eigenwert unabhängig vom Nutzen», sagt Uta Eser, die sich mit ethischen Fragen zur biologischen Vielfalt beschäftigt und in Tübingen ein Büro für Umweltethik betreibt. Der Umgang mit Biodiversität besitze eine starke moralische Komponente. So sei Gerechtigkeit gegenüber künftigen Generationen sowie gegenüber den jetzt lebenden, weltweit meist armen Menschen, die am meisten unter den Folgen des Schwunds der Vielfalt leiden, «das Herz der Biodiversitätskonvention», sagt Eser.
Den Menschen mitdenken
In diesem moralischen Spannungsfeld arbeiten die Forschenden der WSL. «Biodiversität ist kein fixer Zustand, sondern ein gesellschaftliches Ziel», sagt Rolf Holderegger. Zum Beispiel kann man eine Wiese pflegen, um seltene Arten zu fördern, oder sie in Ruhe lassen, um natürliche Prozesse wie die Wiederbewaldung zuzulassen. Welches Ziel gewünscht wird, müssten Bevölkerung und Politik entscheiden. «Wir Forschenden können dann Empfehlungen abgeben, wie man zum Ziel kommt, und die wissenschaftlichen Grundlagen liefern, was bei bestimmten Eingriffen passiert.»
Die Biodiversitätsforschung der WSL begann in den 1970er-Jahren mit Inventaren und Langzeitüberwachung (Monitoring) von besonders wertvollen Naturräumen. Bis heute verfolgt die WSL – teilweise im gesetzlichen Auftrag des Bundes – die Entwicklung von Mooren, Trockenwiesen und -weiden, Auen, Amphibienlaichgebieten sowie Naturwaldreservaten und führt die nationalen Datenbanken für Pilze und Flechten (siehe Seite 8). Solche Monitorings dokumentieren Veränderungen von Artbeständen und geben Hinweise darauf, wo es Schutzmassnahmen braucht oder wie gut diese funktionieren.
Doch Bestandsaufnahmen allein genügen nicht. Weil sich die Umwelt- und Lebensbedingungen ständig ändern, müssen auch die Prozesse bekannt sein, die zum Kommen und Gehen von Vielfalt führen. Hält ein strukturreicher Wald häufigeren Stürmen besser stand? Welchen Effekt haben Autobahnen auf die genetische Vielfalt von wandernden Tieren? Wie haben sich Arten an Lebensräume angepasst und wie schnell geht das, etwa hinsichtlich des Klimawandels?
Indem sie solche Fragen beantwortet, liefert die WSL den Verantwortlichen bei Bund, Kantonen und Gemeinden die Grundlagen für Massnahmen, um den Schwund der Biodiversität zu stoppen. In persönlichen Gesprächen und Vorträgen leisten die Forschenden zudem Überzeugungsarbeit. Es mangle häufig nicht am Wissen, was getan werden müsste, sondern am politischen Willen, urteilt Holderegger. Naturschutz braucht Geld und Platz – und beides ist knapp.
Der Biologe plädiert deshalb für mehr Vielfalt auch beim Schutz der Biodiversität. Wo immer es möglich ist, soll die Natur Vorrang haben und etwa Wildnis entstehen oder extensive Bewirtschaftung zu mehr Biodiversität führen. An anderen Orten dürfen in der Natur auch einmal die menschliche Erholung oder Nutzung vorherrschen. So ist garantiert, dass Lebensräume aller Qualitätsstufen vorkommen. Denn: «Nur Vielfalt kreiert Vielfalt.» (Beate Kittl, Diagonal 1/19)