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Der Zustand der Biodiversität ist schlecht. Was müsste die Forschung, was die Politik tun, um ihn zu verbessern? Nationalrätin Silva Semadeni und Biologe Niklaus Zimmermann sprechen über den Wert der Natur, Landnutzungsänderungen und die Aufklärung und stellen fest: Man weiss genug, um jetzt zu handeln!


«Die Wissenschaft soll auch mal klare Aussagen machen und nicht immer alles relativieren.»
Sie setzen sich für die Biodiversität ein. Wie kommt das?
S: Als Kind war ich jeden Sommer auf der Alp. Mein Grossvater war Lehrer und Bauer und ein grosser Naturliebhaber. Mit ihm entdeckte ich Feuerlilien und Edelweiss und habe gelernt, die Natur zu beobachten. Das ist mir geblieben, und darum bin ich Naturschützerin.
Z: Schon meine Mutter hat sich für Pflanzen interessiert, und wir sind viel wandern gegangen. Im Gymnasium hatte ich einen sehr guten Biologielehrer, der diesen «Gwunder» an der Natur weiter nähren konnte.
Merken Sie im Alltag, dass sich der Zustand der Biodiversität verschlechtert?
S: Ja, eindeutig! Früher haben wir auf der Alp Neuntöter beobachtet, auch Frösche oder Kaulquappen. Heute sehe ich keine mehr. Und überall im Land gibt es neue Bauten, wo früher Natur war.
Z: Ich finde das schwierig, vieles läuft schleichend und im Verborgenen ab. Aber vor ein paar Jahren war ich in Montenegro. Dort ist mir ein unglaublicher Insektenreichtum aufgefallen. Ich erinnere mich nicht genau, wie das früher bei uns war. Ich empfinde aber, dass es mehr Bremsen und Mücken gab.
Was sind die Gründe für diese Entwicklungen?
Z: Landnutzungsänderungen sind ganz wichtig, mit intensivem Einsatz von Dünger, Herbiziden und Pestiziden. Ein zweiter Faktor ist der Druck von invasiven Arten, die einheimische Tiere und Pflanzen verdrängen. Dieser Druck nimmt mit dem Klimawandel noch zu.
S: Die intensivierte Landwirtschaft ist ein grosses Problem. Die Biodiversität geniesst trotz Biodiversitätsbeiträgen und ökologischem Leistungsnachweis keine Priorität. Zum Beispiel Kleinstrukturen – da wird man bei gewissen Direktzahlungen sogar belohnt, wenn man sie ausräumt. Es gibt auch zu wenig Schutzgebiete und die, die wir haben, werden nicht gut genug gepflegt. Das BAFU hat aufgezeigt, dass es einmalig 1,6 Mia. Franken bräuchte, um sie instand zu stellen, und danach jährlich 80 Mio. Franken, um den Stand zu halten. Mit dem «Aktionsplan Biodiversität» haben wir zwar für einmal die Finanzen etwas aufgestockt, aber das reicht nicht. Und in der Budgetdebatte habe ich jedes Jahr Angst, dass die Mittel für die Natur gekürzt werden. Sie hat politisch keine Priorität.
Warum sollte sie denn eine Priorität sein?
Z: Eigentlich geht es ja um ein Vermächtnis: Wir wollen unsere Erde so weitergeben, wie wir sie angetroffen haben, und nicht schlechter. Aber es gibt auch ökonomische Aspekte. So sind in Amerika gewisse Landwirtschaftsregionen derart ausgeräumt, dass die Bestäubung nicht mehr funktioniert. Das führt zu riesigen Ernteverlusten. Ich finde die ökonomische Argumentation aber gefährlich: Wenn einzelne Arten verschwinden, führt das nicht unbedingt zu einem wirtschaftlichen Schaden. Bei einem rein wirtschaftsorientierten Denken würde aber ein solcher Verlust hingenommen.
S: Mich spricht der erste Ansatz, das Vermächtnis, viel mehr an. Aber viele Politikerinnen und Politiker sehen nur die Wirtschaft.

Was braucht es, dass die Politik beim Schutz der Biodiversität vorwärts macht?
S: Bei der jetzigen Zusammensetzung unseres Parlaments hilft nur Druck durch die Bevölkerung. Wir müssen Initiativen starten. Die Zivilgesellschaft muss die Politik antreiben.
Müssen wir auch noch mehr forschen?
S: Die Wissenschaft müsste Alternativen aufzeigen, zum Beispiel zu gefährlichen Pestiziden. Denn warum sollten die Bauern Freude haben an schädlichen Pestiziden?
Z: Bildung ist für mich sehr wichtig, wir sollten darum erforschen, was wir noch nicht verstehen. Aber wir wissen genug, um jetzt zu handeln. Wir Wissenschafter müssen zudem unsere Resultate noch intensiver in die Öffentlichkeit tragen. So können wir dem Eindruck entgegenwirken, dass wissenschaftliche Resultate beliebig austauschbar seien.
S: Genau. Die Vermittlung von Wissen ist zentral. Ich erlebe immer wieder, dass die Wissenschaft ein Glaubwürdigkeitsproblem hat. Das finde ich dramatisch.
Z: Die ganze Entwicklung, die wir seit der Aufklärung durchlaufen haben, basiert drauf, dass man Logik und Argumentation verwendet – und jetzt stellen das gewisse Kreise in Frage; behaupten einfach, was ihnen passt! Das ist für mich ein Rückschritt ins Mittelalter, als man von der Kanzel gepredigt hat, was wahr und was falsch ist. Allerdings darf sich die Wissenschaft auch nicht für zu dramatische Aussagen missbrauchen lassen, sonst ist sie angreifbar. Wie damals in der Waldsterbensdebatte. Danach sagten die Leute «Der Wald steht immer noch, der Wissenschaft kann man nicht glauben.»
S: Das stimmt doch so nicht! Man hat etwas gegen den sauren Regen gemacht, der Katalysator ist sofort eingeführt worden. Die Wissenschaft soll auch mal klare Aussagen machen und nicht immer alles relativieren.
Auch die Politik bleibt gerne unverbindlich: Der «Aktionsplan Biodiversität» verschiebt konkrete Massnahmen in eine zweite Umsetzungsphase ab 2024. Ist es dann zu spät?
Z: Je länger wir warten, desto grösser ist der unwiederbringliche Verlust. Damit gehen wir das Risiko ein, dass zusätzliche Funktionen in Ökosystemen beeinträchtigt sind. Gleichzeitig faszinierend und beängstigend finde ich die Hochrechnungen, dass erst 20 Prozent der Arten, die es auf der Welt gibt, beschrieben sind. Wir werden also viele Arten verlieren, bevor wir sie kennen, bevor wir etwas über ihre Verbreitung, ihre Ökologie, ihre Beiträge zu Ökosystemdienstleistungen wissen.
S: Das Schlimmste ist nicht das Rausschieben. Sondern, dass auch das, was dann endlich kommt, wenig konkret ist und wenig bewirkt. Es bräuchte einschneidende Massnahmen; der Mensch muss Grenzen akzeptieren. Das ist nicht nur für Politiker schwierig! (Birgit Ottmer, Diagonal 1/19)