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Laubfresser am Werk

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Wer spielt welche Rolle? Wie viel Biodiversität braucht es, damit ein Ökosystem funktioniert? Das untersuchen Forschende der WSL, indem sie die Natur im Labor nachbauen.

In manchen der Kunststoffröhren huschen Asseln durch totes Laub. In anderen graben Regenwürmer kleine Tunnel ins Erdreich oder kriechen Schnecken an den Wänden empor. Die Tiere sind Teil eines Experiments, das Postdoktorand Simone Fontana und Praktikantin Yumi Bieri an der WSL unter der Leitung von Marco Moretti durchführen. Dort haben sie in klimatisierten Kammern Miniatur-Lebensräume eingerichtet, sogenannte Mesokosmen. «Mit diesen wollen wir untersuchen, wie sich Veränderungen der Biodiversität auf Ökosysteme auswirken», sagt Fontana.

 

Konkret wollen die Forschenden wissen, welchen Einfluss der Verlust von Arten und Änderungen in der Artenzusammensetzung auf den Abbau von Laub am Waldboden haben, der sogenannten Streu. Dabei spielen wirbellose Tiere wie Asseln, Regenwürmer und Schnecken eine wichtige Rolle. Sie fressen zu Boden gefallene Blätter und zerkleinern sie, sodass kleinere Tiere sowie Bakterien und Pilze sie weiter abbauen können. So gelangen Nährstoffe aus den toten Blättern wieder in den Boden, wo Pflanzen sie über ihre Wurzeln aufnehmen und fürs Wachstum nutzen.

Der Streuabbau spielt somit im Ökosystem Wald eine wichtige Rolle, und verschiedene Arten übernehmen dabei unterschiedliche Funktionen. Doch durch den Klimawandel und andere menschliche Einflüsse nimmt die Artenvielfalt weltweit ab. «Dadurch gehen in vielen Ökosystemen wichtige Funktionen verloren», sagt Fontana. Ob das auch bei der Laubzersetzung im Wald der Fall ist, will er herausfinden. Funktioniert der Abbau noch, wenn einzelne oder mehrere Arten fehlen? Und welche Rolle spielen die einzelnen Arten im System?

Diese Fragen will Fontana mit Hilfe der Mesokosmen im Labor beantworten. Die Komplexität der Natur lässt sich darin zwar nicht nachstellen – aber das ist auch nicht das Ziel. «Der Vorteil von Laborexperimenten ist, dass man die einzelnen Faktoren im System gut auseinanderhalten kann».

Genau das tut der Postdoktorand: Im ersten Schritt reduziert er die Komplexität. In jeden der insgesamt 189 Mesokosmen – 30 cm hohe Stücke von Abflussrohren – setzt er nur eine einzige Tierart, also eine von jeweils drei Schnecken-, Regenwurm- oder Asselarten. «Dadurch finden wir heraus, wie viel Laub jede Art allein zersetzt», sagt Fontana. Die Rohre sind mit einer 20 cm dicken Schicht Erde gefüllt. Darauf befindet sich exakt 5 Gramm Laub von Birke, Ahorn oder zu gleichen Teilen von beiden Baumarten.

Wer frisst wie viel?

Ist nach mehreren Wochen ungefähr die Hälfte des Laubes zersetzt, beenden Fontana und Bieri den Versuch und wiegen, wie viel Gramm jede Art verzehrt hat. Dieses Wissen dient den Forschenden als Basis, um in weiteren Experimenten schrittweise die Komplexität zu erhöhen und zwei oder mehrere Arten oder Tiergruppen zu kombinieren. Eine Frage ist, ob diese zusammen fähig sind, mehr Laub zu verzehren – und zwar über das Mass hinaus, das aus der reinen Summe der einzelnen Arten zu erwarten wäre. Dieses als Komplementarität bezeichnete Phänomen tritt häufig in Ökosystemen auf, wenn Arten sich bei der Erfüllung einer bestimmten Funktion ergänzen. Verschwindet eine Art, führt das unter Umständen zu einem Funktionsverlust.

Im Experiment sind die Arten einer Tiergruppe so gewählt, dass sie möglichst verschieden gross sind und/oder verschiedene Lebensraum- und Fressvorlieben haben. «Dadurch ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie komplementär sind, also sich ergänzen», sagt Fontana. Dies konnte er in früheren Versuchen bereits mit grossen und kleinen Individuen derselben Asselart beobachten. Zudem wird sich zeigen, ob der Streuabbau mit einer oder nur wenigen Arten langsamer erfolgt. «Wenn dem so ist, könnte das Verschwinden von Arten Probleme für das Ökosystem Wald mit sich bringen». Denn wenn Nährstoffe nur verzögert in den Boden zurückgelangen, keimen und wachsen Pflanzen möglicherweise langsamer. Auch diesen Aspekt wollen die Forschenden untersuchen: Aus den Mesokosmen werden sie am Ende des Experiments Erde entnehmen, um Samen darin zu säen und das Wachstum der Pflanzen zu messen. Die Versuchstiere selbst werden nach dem Experiment wieder in die Freiheit entlassen. (Claudia Hoffmann, Diagonal 1/19) 

 

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