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Unterwegs im Flechtenwald

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In Schweizer Wäldern suchen Mitarbeitende der WSL derzeit nach Flechten. Ihre Daten bilden die Grundlage, die Rote Liste der gefährdeten Flechtenarten zu überarbeiten.

Konzentriert sucht Michael Dietrich mit einer Lupe die Baumrinde ab, Zentimeter für Zentimeter. Obwohl es kalt und nebelig ist, kauert er schon zehn Minuten vor einer imposanten Fichte. Ab und zu kratzt er vorsichtig mit einem Messer ein winziges Stück der Borke ab und lässt es in ein Couvert fallen. Nachdem er mit dem Baum fertig ist, nimmt er sich den nächsten vor, wieder eine Fichte. Dietrich ist Flechtenexperte. Bis im Sommer 2021 werden er und vier weitere Mitarbeitende der WSL 500 Waldstücke nach Flechten absuchen. Die Flächen sind Teil des Landesforstinventars LFI und sind über die ganze Schweiz verstreut. Auf diesen Dauerbeobachtungsflächen – jeweils 500 Quadratmeter oder etwa zwei Tennisfelder gross – nehmen die Expertinnen und Experten jeden einzelnen Baum unter die Lupe. «Das kann gut einmal fünf bis sechs Stunden dauern», erklärt Dietrich.

 

Vor gut zwanzig Jahren suchte Dietrich auf der gleichen Fläche schon einmal nach Flechten. Die Daten dieser Bestandsaufnahme flossen in die erste Rote Liste der baum- und erdbewohnenden Flechten der Schweiz ein, die das Bundesamt für Umwelt (BAFU) 2002 publizierte. Fast vierzig Prozent der untersuchten Flechtenarten wurden damals als gefährdet eingestuft, ein Warnsignal, dass auch die Vielfalt von unscheinbaren Organismen bedroht ist – im Falle der Flechten einer Lebensgemeinschaft eines Pilzes mit mindestens einer Grünalge oder einem Cyanobakterium. Auch wenn sie meist unspektakulär sind: Flechten bieten verschiedenen Tieren Lebensraum und Nahrung und eignen sich hervorragend als Indikatoren für die Luftqualität oder als Zeiger für Wälder, die über einen langen Zeitraum naturnah bewirtschaftet wurden.

Nun wird die Rote Liste der Flechten revidiert, um herauszufinden, wie sich die Häufigkeit der Arten seit 2002 verändert hat – und Dietrich steht wieder im steilen Bergwald oberhalb von Emmetten im Kanton Nidwalden. Heute ist er ausnahmsweise nicht alleine unterwegs. WSL-Biologin Silvia Stofer, die die Überarbeitung der Roten Liste der Flechten an der WSL koordiniert, begleitet ihn an diesem Oktobermorgen. «Bei den ersten Feldeinsätzen in einem neuen Projekt gehe ich gerne mit, so können wir allfällige Unklarheiten bei der Datenaufnahme gleich bereinigen», sagt sie. Dietrich ruft sie zu sich, er hat etwas Spezielles entdeckt. Beim Baum, den er gerade untersucht, wachsen auf Augenhöhe kleine Fruchtkörperchen. «Eindeutig die Tannen-Strahlflechte», freut sich Dietrich, die Art ist relativ selten in der Schweiz.

 

Die Couverts mit den Borkenstückchen bringt Dietrich nach der Feldarbeit ins Labor an die WSL in Birmensdorf. Hier analysieren Stofer und ihre Mitarbeitenden die Flechten, die im Feld nicht sicher bestimmbar sind – und das sind viele der 786 bekannten Baum- und Erdflechtenarten der Schweiz. Sorgfältig nimmt Stofer ein Stückchen Borke aus einem Couvert und untersucht die darauf wachsende Flechte unter dem Mikroskop. Die Artbestimmung ist alles andere als einfach. «Die Grösse und Form der Sporen oder die Form der Schläuche, in denen die Sporen sitzen, geben oft einen Hinweis darauf, um welche Art es sich handelt», sagt Stofer. Dazu muss die Flechte aber Fruchtkörper haben. Ist das nicht der Fall, können chemische Analysen der Inhaltsstoffe weiterhelfen.

Datenzentren verbinden Forschung und Praxis

Sind die Flechtenarten bestimmt, fliessen alle Daten, die Dietrich am Fundort erfasst hat – etwa zum Wuchsort, zum Lebensraum oder zur Grösse der Flechtenpopulation –, in den Computer und damit ins Daten- und Informationszentrum SwissLichens an der WSL. SwissLichens gibt eine Übersicht über die Verbreitung und Häufigkeit aller in der Schweiz bekannten Flechtenarten und dient als Grundlage, um den Schutzstatus der einzelnen Arten in der Roten Liste festzulegen. Die Daten sind öffentlich. «Eines der Ziele von SwissLichens ist es, das Wissen über die Verbreitung, Gefährdung und Ökologie der Flechten einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen», sagt Stofer, die das Datenzen­trum leitet.

Neben SwissLichens betreibt die WSL auch SwissFungi, das Nationale Daten- und Informationszentrum zu Pilzen in der Schweiz. SwissLichens und SwissFungi sind InfoSpecies angeschlossen, der Dachorganisation der nationalen Daten- und Informationszentren. Wie für die Flechten gibt es auch für die Grosspilze – Pilze, deren Fruchtkörper mit blossem Auge erkennbar sind – eine Rote Liste. Sie erschien 2007 zum ersten Mal. Rund ein Drittel der untersuchten Arten wurde damals als bedroht eingestuft. Auch diese Liste soll überarbeitet werden. Andrin Gross, der SwissFungi leitet, klärt derzeit ab, welche Methoden der Datenaufnahme dafür verwendet werden sollten.

 

Sensible Lebewesen

Neben dem akribischen Absuchen der LFI-Flächen führen die Feldmitarbeitenden auch Erkundungstouren zu vierzehn ausgewählten Gebieten in der Schweiz durch, die je eine Fläche von 20 x 20 Quadratkilometer abdecken. Ziel ist es, auf diesen Flächen möglichst viele Flechten zu finden, die in seltenen Habitaten vorkommen, zum Beispiel in warmen, extensiv bewirtschafteten Wiesen oder in Schluchtenwäldern.

Ist die Rote Liste der Flechten heute länger oder kürzer als zuvor? «Das wissen wir, wenn die Daten ausgewertet sind», meint Stofer. Sie geht davon aus, dass es eine Verschiebung in der Häufigkeit der Arten gegeben hat, da die Flechten vor zwanzig Jahren anderen Einflüssen ausgesetzt waren als heute. Damals waren Themen wie der saure Regen aktuell, heute sind es der Klimawandel und die Belastung der Lebensräume mit Stickstoff. «Ich nehme an, dass heute Flechtenarten, die gut mit dem Stickstoffeintrag aus der Luft umgehen können, häufiger vorkommen als vor zwanzig Jahren», sagt sie. Wie viele der erd- und baumbewohnenden Flechten der Schweiz tatsächlich gefährdet oder gar vom Aussterben bedroht sind, wird die überarbeitete Rote Liste zeigen. Sie wird 2022 publiziert. (Lisa Bose, Diagonal 1/19)

 

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