
Forschung XXL: die Natur als Labor
Hauptinhalt
Die Natur bestimmt, wann’s los geht
Was passiert im Innern eines Murgangs? Wann transportiert ein Bach Steine und Geröll? Grossversuche in Wildbächen liefern Antworten.
Der Alarm röhrt ohrenbetäubend. Ein vorbeifahrender Mountainbiker schaut verwundert um sich und bleibt stehen. Das Plakat unter der blinkenden Warnlampe warnt: «Lebensgefahr! Es ist jederzeit mit Murgängen zu rechnen – auch bei schönem Wetter.» Erst als WSL-Techniker François Dufour ihm zuruft: «Pas de souci, ce n’est qu’un test», fährt er weiter über das fast ausgetrocknete Bachbett. Dem Rinnsal, das im Illgraben bei Leuk (VS) zwischen Kies und Geröll plätschert, traut man nichts Böses zu. Tatsächlich kann es sich aber innert Sekunden zur todbringenden Schlamm- und Wasserwalze wandeln. Bei Niederschlag, manchmal mit Schmelzwasser kombiniert, donnern Hunderte Tonnen Schlamm und gröberes Gesteinsmaterial als Murgang ins Tal. Ein solcher Murgang hat deutlich mehr Energie als ein Hochwasser mit Geschiebe und richtet dementsprechend hohen Schaden an. Durch die geologische Konstellation im Illgraben finden solche Ereignisse hier mehrmals pro Jahr statt, was den Ort zum idealen Studienobjekt für Murgänge macht.
Freiluft-Grosslabor
Die WSL hat seit Mai 2000 im Illgraben eine ganze Reihe von Messinstrumenten installiert, so etwa Geofone, die seismische Bodenbewegungen messen. Die Geofone registrieren die Erschütterungen, die den Anfang eines Murgangs markieren, und starten automatisch Videoaufnahmen. Radar- und Lasergeräte erfassen an mehreren Stellen Fliesshöhe und Geschwindigkeit der Schlamm- und Geröllmassen. Im untersten Kegelbereich, wo der Illgraben in die Rhone mündet, messen Sensoren in einer Seitenmauer die Kräfte im Innern der Murgangmischung. Und unter der Brücke der Kantonsstrasse erfasst eine Waage das Gewicht des vorbeifliessenden Materials.
«Wir haben hier die einzigartige Möglichkeit, das Innenleben von Murgängen zu untersuchen: ihre Zusammensetzung, ihr Fliessverhalten, ihre Charakteristik», erläutert Techniker Dufour. Mit den Daten verbessern die Forschenden ihr Verständnis der Prozesse, die während eines Murgangs ablaufen, und optimieren Computersimulationen. Diese dienen Ingenieuren und Planern dazu, Gefahrenkarten zu erstellen und allfällige Schutzmassnahmen zu bemessen.
Warnsystem für Dorf und Touristen

Dufour ist Ingenieur und einer der Techniker, die neben den Messgeräten für die Wissenschaft auch die Instrumente des Warnsystems im Illgraben betreuen. Kontrollen und Wartungsarbeiten sind besonders nach grösseren Murgängen nötig. Sein Weg zu den Messgeräten ist jedes Mal ein anderer, da die Schotterstrasse nach und nach der Erosion zum Opfer fällt. Heute muss er für die letzte Strecke auf allen Vieren über Felsen klettern und sich an Sträuchern und Ästen emporziehen, um das oberste Instrument zu erreichen.
Das Warnsystem installierte die WSL 2007 im Auftrag der Gemeinde Leuk/Susten. Sobald die Messgeräte einen Murgang registrieren, erhalten lokale Sicherheitsverantwortliche automatisch eine SMS-Mitteilung. Gleichzeitig zeigen optische und akustische Alarme an drei Bachüberquerungen die Gefahr an. Als Basis für das Warnsystem dienten die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Beobachtungen und ein mit der Gemeinde entwickeltes Notfallkonzept. Um einen grösseren Murgang frühzeitig erkennen zu können, werden im Einzugsgebiet zudem automatisch die Niederschläge gemessen und regelmässig Feldbegehungen durchgeführt, in Extremsituationen auch Helikopterflüge. Neben der eigentlichen Schutzfunktion dient das Warnsystem als Pilotanlage für die Entwicklung von Warnvorkehrungen andernorts.
Murgang oder Hochwasser – es geht immer ums Geschiebe
Auch im Alptal (SZ) misst die WSL, wie viel Material ein Bach mit sich führen kann, wenn auch mit anderem Hintergrund. Hier regnet es oft und heftig, die Böden sind tonig, das Wasser versickert nur schlecht: Das Risiko für Hochwasser ist hoch. Was gefährlich für die umliegenden Siedlungen sein kann, ist für die Wissenschaft ein Glücksfall: Hier herrschen ideale Bedingungen, um zu erforschen, welche Faktoren Hochwasser begünstigen. In den 1960er-Jahren rüstete die WSL verschiedene Wildbäche im Alptal mit Messeinrichtungen aus, um herauszufinden, wie der Wald die Bildung von Hochwasser und die Wasserqualität beeinflusst. Seit den 1980er-Jahren untersuchen die Forschenden hier unter anderem auch den Transport von Geschiebe und Schwemmholz und erstellen seit einigen Jahren Modelle für die Hochwasservorhersage.
Dieter Rickenmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Gruppe Wildbäche, steht mit zwei japanischen Forschern am Erlenbach im Alptal. Es ist trotz Sonne frisch, die Luft ist feucht, die Finger werden schnell klamm. Beim grossen Rückhaltebecken zeigt Rickenmann den Gästen, wie die WSL den Geschiebetransport in einem der aktivsten Wildbäche der Schweiz untersucht. Dass die Besucher von so fern anreisen, hat seinen Grund: Die Geschiebemessanlage der WSL ist bis heute weltweit einzigartig.
Wenn Steine auf Metall treffen
Mitarbeitende der WSL entwickelten eine Methode, wie sie das Geschiebe indirekt überwachen und messen können. Geofone zeichnen die Erschütterungen auf, die Geschiebekörner verursachen, wenn sie über Stahlplatten schrammen. Die Stahlplatten sind ins Bachbett eingelassen, die Geofone befinden sich auf der Unterseite der Stahlplatte. Geeicht werden die Signale mit direkten Messungen der Geschiebefracht. Dazu haben die Forschenden Fangkörbe beim Einlauf des Rückhaltebeckens montiert. Diese laufen auf waagrechten Tragschienen und werden bei starkem Abfluss von Seilwinden automatisch in den Abflussstrahl gezogen. Dort fangen sie Steine und Geröll auf, das der Bach an seinem Grund transportiert. Auch das Material, das sich im Rückhaltebecken ansammelt, dient dazu, die Messungen der Geofone zu kalibrieren. Dazu wird das Volumen des abgelagerten Geschiebes vermessen.
«Dank den Messungen konnten wir die Berechnungsansätze für den Geschiebetransport stark verbessern und ein Computersimulationsmodell entwickeln. Mit diesem können wir nun auch über längere Abschnitte in Gebirgsflüssen berechnen, unter welchen Bedingungen wie viel Geschiebe transportiert wird», erklärt Rickenmann. Im Nationalen Forschungsprogramm 61 «Nachhaltige Wassernutzung» kam das Modell zur Anwendung: Die Forschenden untersuchten, wie sich die Klimaänderung auf den Geschiebetransport und die Lebensbedingungen für die Bachforelle auswirken könnte.
Heute bewegen sich die Fangkörbe nicht, der Erlenbach führt praktisch kein Wasser, geschweige denn Geschiebe. Dass der Wildbach auch anders kann, dokumentieren Bilder der letzten grossen Überschwemmung vom Juni 2007. Nach einem Gewitter füllte damals der Erlenbach innerhalb von zwei Stunden das Rückhaltebecken mit Steinen, Schlamm und Schwemmholz. «Ein solch extremes Ereignis findet hier etwa alle zehn Jahre statt, jedes Jahr haben wir 15 bis 20 Hochwasser mit Geschiebetransport», sagt Rickenmann. Im nahe gelegenen Weiler Brunni richtete der Bach 2007 zum Glück keine Schäden an.
Zuerst im Feld, dann im Labor

Planung, Bau und Unterhalt einer Anlage wie am Erlenbach sind aufwendig. Das Rückhaltebecken muss regelmässig ausgebaggert werden, damit es jederzeit auch ein grosses Hochwasser mit viel Geschiebe auffangen kann. Etwa 1000 Kubikmeter verlädt der Bagger jeweils in 85 LKWs, die das Material auf eine Deponie bringen. «Vor allem für die Abflussmessungen, die wir auch für die Berechnungen des Geschiebetransports brauchen, ist der Unterhalt intensiv. Jede Woche kontrolliert ein Mitarbeiter die Messdaten und putzt verdreckte Instrumente», erklärt Rickenmann.
Vielleicht können die Geofone in Zukunft im Labor geeicht werden, was einfacher und günstiger wäre. Doktorand Carlos Wyss hat dies in seiner Doktorarbeit an der WSL untersucht. Seine Resultate sind ermutigend, auch wenn die im Labor kalibrierte Methode noch nicht ganz so genau ist, wie gewünscht. Heisser, trockener Illgraben und nasser, kühler Erlenbach: Gemein ist den beiden WSL-Grossversuchsanlagen, dass nicht der Mensch, sondern die Natur die Versuche auslöst. Rickenmann erklärt: «Wir beobachten natürliche Prozesse, die man in diesem Ausmass gar nicht künstlich auslösen könnte». (Gottardo Pestalozzi, Lisa Bose, Diagonal 1/16)