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Von Grossversuchs- zu Pop-up-Anlagen

Kontrolliert Lawinen auslösen, Murgänge vermessen und Steine in Schutznetze werfen – wozu dient das? Ein Gespräch mit Perry Bartelt, WSL, und Lorenz Meier, Geopraevent, über Grossversuchsanlagen.

 

«Heute würde man wohl keine neue Grossversuchsanlage mehr bauen.»

 

Welche Rolle haben Grossversuchsanlagen (GVA) in eurem beruflichen Werdegang gespielt?

PB: Eine sehr grosse. Wir haben explorativ angefangen, haben Videos von Lawinen, Murgängen oder Steinschlägen gemacht und geschaut, was wir dabei entdecken. Heute spüren wir ausgewählten Aspekten wie der Staubwolke nach. Wir sagen «In einer Lawine sollten wir das-und-das sehen» – und überprüfen es im Lawinendynamik-Testgelände im Vallée de la Sionne (VdlS).

LM: Ich habe im VdlS viele Sensoren kennengelernt – und Sensoren beschäftigen mich noch heute. Ich bin auch einmal im VdLS im Bunker mit den Messgeräten gewesen, aber die Lawine liess sich nicht auslösen. Das ist der Nachteil solcher GVA: Sie sind teuer und mit viel Technologie ausgestattet, aber die Ereignisse sind selten.

Wie häufig gelingt es denn im VdlS, eine Lawine auszulösen?

PB: Ein grösseres Ereignis alle zwei, drei Jahre …

LM: Wenn die Lawine kommt, habt ihr sehr viele schöne Daten. Aber ihr müsst warten können. Das ist eine etwas passive Art der Forschung. Wir als kleines Start-up-Unternehmen können nicht drei Jahre warten. Wir müssen unsere Produkte schneller auf den Markt bringen. Deshalb gehen wir dorthin, wo etwas passiert, zum Beispiel nach Brienz (GR), wo sich regelmässig Steinschlag ereignet. Wir haben ein vereinfachtes Messkonzept mit wenigen Geräten, in diesem Fall eine Kamera und ein Radar. So kommen wir rasch zu Daten.

PB: Auch wir können nicht so lange warten, wenn es konkrete Fragen gibt. Aber um ein Naturgefahren-Simulationsprogramm wie RAMMS überhaupt entwickeln zu können, haben wir die Daten aus den GVA benötigt. Jetzt können wir in Feldsituationen, wie in Brienz, mit mobilen kleinen Anlagen – nennen wir sie Pop-up-Anlagen – schnell und flexibel Daten erheben und damit RAMMS in anderem Gelände überprüfen.

 

Wie wichtig sind die Erkenntnisse aus den GVA für Geopraevent?

LM: Sie sind indirekt wichtig. Damit wir zum Beispiel für ein Warnsystem die Lawine am richtigen Ort erkennen, simulieren unsere Partner im Computer, wo sie durchfliesst. Die Computerprogramme dafür beruhen auf Erkenntnissen aus den GVA. Und in GVA können neue Technologien wie Radar ausprobiert werden, die wir später einsetzen. Wir selber können nicht völlig neue Technologien entwickeln.

 

Die WSL hat in den letzten Jahren GVA stillgelegt. Gehört die Zukunft den Pop-up-Anlagen?

PB: Steinschlag lässt sich besser mit Feldversuchen untersuchen, zum Beispiel auf Wiesen, im Wald, in Schutthalden und mit verschiedenen Steinformen.

GVA sind also ein Auslaufmodell?

PB: Ich denke, für Steinschlag ja, für Lawinen eher nicht. Wenn das Klima sich verändert und es zukünftig vielleicht mehr Nassschneelawinen gibt, ist es gut, wenn wir dazu Daten aus dem VdlS haben.

LM: Für Pop-up-Anlagen spricht auch, dass Computer heute viel kleiner und leistungsfähiger sind. Man muss nicht mehr ein ganzes Rack in einen Bunker stellen. Und mit Laserscans kann man in einer Stunde ein exaktes Geländemodell bekommen. Heute würde man wohl keine neue GVA mehr bauen, denke ich.

PB: Aber es gibt noch ungelöste Probleme. Wir erhalten zum Beispiel viele Anfragen zu Eis- und Staub­lawinen im Himalaya. Die riesigen Höhendifferenzen, die schnellen Bewegungen, die Staubwolke, die sich auf 6000 Meter ganz anders verhält: Um die Physik zu verstehen, verwenden wir Daten von Staub­lawinen aus dem VdlS. Oder Murgänge, die viel seltener und schwieriger vorhersehbar sind als Lawinen. Da sind wir in der Forschung noch weniger weit und verstehen vor allem die Massenbilanz noch nicht. Die Murgang-GVA im Illgraben braucht es deshalb weiterhin.

Entspricht das den Bedürfnissen von euch Praktikern?

LM: Ihr fokussiert auf die Grundlagen. Auch wir wollen, dass man diese versteht. Insofern entspricht das unseren Bedürfnissen. Ich habe aber eine provokative Forderung: Ich finde, RAMMS müsste Open Source sein.

PB: Dazu fehlen uns die Mittel. Das Geld, das wir mit RAMMS einnehmen, fliesst direkt in die Weiterentwicklung und die Unterstützung der Anwender, wie zum Beispiel Support und Schulung.

LM: Dann müsstet ihr genau das verkaufen! Oder Zertifizierungen: Wer RAMMS brauchen will, muss sich von euch ausbilden lassen. So hättet ihr eine Qualitätskontrolle, dass die Modelle richtig angewandt und die Resultate richtig interpretiert werden.

Vor fünfzig Jahren sind 88 Arbeiter am Mattmark-Staudamm durch einen Gletscherabbruch ums Leben gekommen. Liesse sich eine solche Tragödie heute dank GVA vermeiden?

PB: Heute würde man vermutlich im Voraus modellieren, wo die Unterkünfte zu stehen kommen. Ich würde es gerne mal nachsimulieren, um die Frage beantworten zu können.

LM: Wie man heute mit instabilen Gletschern umgeht, sieht man am Weissmies im Wallis. Im Sommer 2014 hat sich dort häufiger als früher Eisschlag ereignet, da ein Teil des Gletschers instabil geworden ist. RAMMS-Simulationen haben gezeigt, wie viel Eis abbrechen muss, bis es zur Piste oder gar bis ins Tal gelangt. Seither überwachen wir den Gletscher mit Radar. Grössere Abbrüche erkennen wir einige Tage im Voraus an der erhöhten Fliessgeschwindigkeit. Auch die Grösse des Abbruchs können wir abschätzen. Dann treffen die Behörden Schutzmassnahmen.

Und so etwas wäre vor fünfzig Jahren nicht möglich gewesen?

LM: Nein, weil die Modelle fehlten, und die hatte man auch deshalb nicht, weil man noch keine Daten aus GVA hatte. Aber auch die Messtechnologie war noch nicht so weit.

PB: Auch die Geländemodelle und die Rechenkapazität haben damals gefehlt. Aber vor allem hat man die Prozesse noch nicht so gut verstanden, dass man sie modellieren konnte – heute dank GVA schon. Der Nutzen der GVA für die Gesellschaft ist also gross. (Birgit Ottmer, Diagonal 1/16)