
Kalt!
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Forschen bei eisiger Kälte
Im Kältelabor des SLF experimentieren Forschende mit Schnee aus aller Welt. Manchmal werden dabei nicht nur ihre Instrumente und Materialien, sondern auch sie selbst auf Kältetauglichkeit geprüft.
Matthias Jaggi leidet. Er steht im warmen Korridor vor den Kältekammern und versucht seinen blutleeren Händen Leben einzuhauchen. Langsam weicht dem Stechen ein Kribbeln und allmählich tauen seine klammen Finger wieder auf. «So starken Kuhnagel hatte ich noch nie», sagt der 34-jährige Maschinenbauingenieur. Weil ihn die Handschuhe beim Hantieren mit den Geräten gehindert haben, hat er sie kurz ausgezogen. Eigentlich ist er es gewohnt, mehrere Stunden in der Kälte zu arbeiten. Die letzten Tage musste Jaggi aber besonders harten Bedingungen trotzen: In der Kammer Nr. 4 des SLF-Kältelabors herrschen eisige –40 °C.
Das Kältelabor dient den Schneeforscherinnen und -forschern dazu, zu jeder Jahreszeit unter kontrollierten Umgebungstemperaturen mit Schnee zu experimentieren – unabhängig davon, wie warm oder kalt es draussen ist. Es besteht aus sechs Kammern, die je rund 20 m2 gross sind und an begehbare Tiefkühler erinnern. Ihre Temperatur lässt sich nach Bedarf einstellen. Meist sind sie zwischen –25 und 0 °C kalt. Dass es in der Kammer Nr. 4 nun sogar –40 °C sind, hat seinen Grund: Matthias Jaggi simuliert polare Temperaturen.
Die Experimente, die Jaggi im Labor durchführt, dienen ihm als Vorbereitung für seine Expedition in die Antarktis. Rund drei Monate wird er auf der italienisch-französischen Station Concordia (Dome C) verbringen. Diese liegt fast 1000 Kilometer von der Küste entfernt, auf rund 3200 Metern über Meer. Kalte Temperaturen sind dort garantiert: Die Lufttemperatur liegt in den zentralen Gebieten der Antarktis durchschnittlich bei –54 °C. Es ist das erste Mal, dass Jaggi in die Antarktis reist. «Ich freue mich, diese Gelegenheit zu bekommen und bin gespannt, was mich auf der Station erwartet», sagt er.
Schnee das ganze Jahr hindurch
Seit neun Jahren arbeitet Matthias Jaggi als technischer Mitarbeiter am SLF in der Gruppe Schneephysik. Er unterstützt die Forschenden bei ihren Projekten und sorgt unter anderem dafür, dass im Kältelabor alles rund läuft. Zum Beispiel die Maschine in Kammer Nr. 6, die im Winter wie im Sommer in Betrieb ist. Der kühlschrankförmige Kasten wirkt auf den ersten Blick unspektakulär. Doch der Schein trügt. Im Innern des Apparats hängen filigrane Schneekristalle wie Schmuckstücke an dünnen Nylonfäden. Der «Snowmaker» produziert Schnee, und zwar naturidentischen, denn in der Maschine laufen im Prinzip die gleichen Prozesse ab wie in der Natur. Dank dem «Snowmaker» sind die Schneephysikerinnen und -physiker bei ihren Experimenten nicht von Schneefällen abhängig. Zudem können sie unterschiedliche Kristallformen produzieren, indem sie Temperatur und Luftfeuchtigkeit verändern. Rund sieben Kilogramm Schnee kann die Maschine pro Tag erzeugen – Forschungsmaterial, um beispielsweise physikalische Prozesse im Schnee zu untersuchen.
Die Kältekammern dienen auch als Lager für Schnee aus aller Welt, den die Forschenden von verschiedenen Expeditionen mitbringen, um ihn später zu analysieren. Für die Lagerung der Schneeproben ist eine konstante Raumtemperatur von –25 °C das Wichtigste. Unter diesen Bedingungen verändern sich Schneestrukturen nur langsam, die Proben bleiben in ihrem Ursprungszustand nahezu erhalten. So können sie bis zum eigentlichen Experiment aufbewahrt werden.
Unverzichtbarer Bestandteil des Kältelabors sind die Computertomografen. Mit diesen Geräten, die vor allem aus der Humanmedizin bekannt sind, durchleuchten die Forschenden Schneeproben, können diese dreidimensional rekonstruieren und die sogenannte Schneemetamorphose beobachten (siehe Seite 13). Bei dieser Umwandlung verändert der Schnee seine Struktur und damit auch seine physikalischen Eigenschaften. Diesen Prozess, der auch in der Natur abläuft, können die Forschenden im Labor unter kontrollierten Bedingungen nachvollziehen. Die Erkenntnisse helfen beispielsweise, den Schneedeckenaufbau und die Entstehung von Lawinen besser zu verstehen.
Um Schneemetamorphose geht es auch bei den Experimenten in der Antarktis. Die Expedition ist Teil des Projekts «Snow properties evolution in a changing climate in Antarctica», bei dem das SLF mit dem Institut des Géosciences de l'Environnement in Grenoble und dem französischen Polarinstitut IPEV zusammenarbeitet. Die Antarktis ist ein wichtiges Klimaarchiv der Erde. Durch die Analyse von Eisbohrkernen lassen sich Rückschlüsse auf die Temperatur in der Vergangenheit ziehen. Dabei ist die Schneemetamorphose ein Faktor, der möglicherweise bei der Rekonstruktion früherer Temperaturen berücksichtigt werden muss. Um die Zusammenhänge besser zu verstehen, will die Gruppe Schneephysik des SLF die Veränderungsprozesse in polaren Schneedecken unter extremen Temperaturbedingungen untersuchen.
Speziell entwickelte Boxen
Die Aufwärmpause im Korridor ist vorbei. Jaggi schlüpft wieder in seinen Gan zkörper-Daunenanzug, zieht die gefütterte Mütze und die dicken Handschuhean und betritt die Kältekammer. Auf dem Labortisch steht ein Schneeblock. Jaggi greift zur Säge und bringt ihn mit wenigen Schnitten in die gewünschte Form. Franziska Roth, Praktikantin in der Gruppe Schneephysik, kommt hinzu. Gemeinsam heben sie den etwa 40 Zentimeter grossen Block vorsichtig an und legen in auf eine silbrige Folie. Sie ist dampfdicht und soll den Luftaustausch des Schneeblocks mit der Atmosphäre verhindern. Welchen Effekt das auf die Schneestruktur und die Isotopen im Schnee hat, sollen spätere Analysen zeigen. Routiniert packen Roth und Jaggi den Schneeblock in die Folie ein. Entscheidend bei Experimenten in der Kälte sind manchmal Details. Normale Klebebänder halten beispielsweise nur bis –10 Grad. Deshalb verwendet Jaggi ein spezielles Band, das auch bei antarktischen Bedingungen klebt. Dann setzt er das Paket zusammen mit Roth vorsichtig in eine speziell entwickelte Box.
Diese soll nach den Tests im Labor auch in der Antarktis zum Einsatz kommen. In ihr läuft die Schneemetamorphose unter kontrollierten Bedingungen ab, denn Deckel- und Bodentemperatur lassen sich regulieren. Dadurch kann Jaggi in der Box einen Temperaturgradienten zwischen oben und unten erzeugen. Je grösser der Temperaturunterschied, desto schneller läuft die Metamorphose des Schnees ab. In der Antarktis wird Jaggi Schneeblöcke aus einer Zone unberührten Schnees im Freien entnehmen und in die Metamorphoseboxen packen. Gleichzeitig misst er täglich den Temperaturgradienten in der natürlichen Schneedecke im Feld. Dieselben Temperaturen wie im polaren Schneeprofilstellt er auch in den Boxen ein – typischerweise etwa –45 °C an der Unter und –30 °C an der Oberseite. Gelagert werden die Boxen in einer –50 °C kalten Eishöhle. Der einzige Unterschied zu den Proben im Feld ist, dass der Schneein den Boxen luftdicht verpackt ist, sodass kein Austausch mit der Atmosphäre stattfinden kann.
Antarktischer Schnee kommt nach Davos
Mittlerweile sind Jaggi und Roth fast fertig mit der Arbeit und darüber nicht unglücklich. Die Kälte macht sich schon längst wieder bemerkbar: Jaggis Nase tropft und seine Brille ist beschlagen. Roths Haare und Wimpern sind mit Raureif überzogen. Schnell räumen sie alles Material zusammen. Damit sind diewochenlangen Tests und Vorbereitungen im Labor fast abgeschlossen. Jaggi bezeichnet sie als erfolgreich: «Die Zeichen stehen gut, dass auch die Experimente in der Antarktis klappen». Jetzt müssen nur noch die Metamorphoseboxen verschifft werden. Sie werden vor Jaggi auf Dome C eintreffen.
Persönliches Material kann er für den dreimonatigen Antarktisaufenthalt nur wenig mitnehmen. Dicke Jacken, Handschuhe, Überhosen: Alles braucht viel Platz. Trotzdem, auf seine Laufschuhe wird er nicht verzichten, die müssen mit. Was er in seiner freien Zeit sonst machen will, hat er sich auch schon überlegt: Jaggi hat sich vorgenommen, die Programmiersprache Python zu lernen.
Wenn die Expedition abgeschlossen ist, werden die Schneeproben mit dem Schiff von der Antarktis nach Europa transportiert. Ein Teil geht nach Paris, wo französische Forschende die Isotopenanalysen durchführen werden. Ein
anderer Teil der Proben kommt nach Davos. Wenn Jaggi auch wieder zurück ist, geht für ihn die Arbeit erst richtig los. Um die Schneestruktur zu analysieren, wird er die Proben im Computertomografen untersuchen. Und zwar dort, wo alles angefangen hat: im Kältelabor des SLF. (Sara Niedermann, Diagonal 1/18)