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Kälteliebende Pflanzen im Klimawandel

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Von der Klimaerwärmung sind Gebirgs- und Tundrapflanzen besonders stark betroffen. Wie sich die Vegetation verändert, untersuchen Forschende der WSL.

 

Temperaturen unter dem Gefrierpunkt, eisiger Biswind, Schnee – Pflanzen sind gefordert, wenn sie diesen Bedingungen trotzen wollen. Im Gegensatz zu vielen Tierarten können sie dem Winter weder entfliehen noch irgendwo Schutz suchen. Nur wer gut an kaltes Klima angepasst und gegen Frost resistent ist, kann überleben.

Die Temperatur bestimmt also stark, wo sich welche Pflanzenarten ansiedeln, wie sie wachsen und sich vermehren. Doch infolge des Klimawandels steigen die Temperaturen immer mehr an. Was bedeutet das für die Artenzusammensetzung von Pflanzen – gerade in Gebirgsregionen, die sich doppelt so stark erwärmen wie der Durchschnitt? Wie reagieren Kulturpflanzen oder Waldbäume unserer Breitengrade auf die höheren Temperaturen?

Trotz Klimawandel mehr Frostschäden

Forschende von WSL und SLF beschäftigen sich in verschiedenen Projekten mit diesen Fragestellungen. Eine Gruppe um Yann Vitasse und Martine Rebetezvon der WSL und der Universität Neuenburg untersuchte mit Unterstützung des BAFU zum Beispiel, ob mit dem Klimawandel in der Schweiz Spätfröste abnehmen und damit auch das Risiko von Frostschäden zurückgeht. Dazu analysierten sie zusammen mit Christian Rixen vom SLF und Forschenden der Agroscope Conthey langjährige Daten von automatischen Wetterstationen. Ausserdem wertete das Forscherteam Tausende von Beobachtungen von Bürgerinnen und Bürgern aus zur Blattbildung und Blütezeit von Buche und Fichte sowie Apfel- und Kirschbaum. Die Ergebnisse zeigten etwas Unerwartetes: Während die Vegetation immer früher zu wachsen beginnt, tritt der letzte Spätfrost in höheren Lagen trotz Klimawandel kaum zeitiger im Jahr auf. Dadurch steigt oberhalb von 800 m ü. M. das Risiko, dass junge Blätter oder Blüten dem Frühjahrsfrost ausgesetzt sind – und es könnte sich in Zukunft noch weiter erhöhen. Längerfristig dürften diese Baumarten in höheren Lagen also öfter unter Spätfrost leiden als heute. Die Arbeit zeigt jedoch auch, dasses derzeit nicht unbedingt sinnvoll ist, Obstbaumarten oder Waldbäume zu fördern, die besser an ein immer wärmeres Sommerklima angepasst sind. Da sie häufig früher im Jahr zu wachsen beginnen, sind sie besonders durch Fröste gefährdet.

 

Gipfelstürmer werden häufiger

In einem anderen Projekt erforscht das SLF, wie sich die Klimaerwärmung auf die Pflanzenzusammensetzung auf Berggipfeln auswirkt. Christian Rixen und Sonja Wipf kartierten zusammen mit Forschenden aus ganz Europa die Pflanzen auf verschiedenen Berggipfeln in den Alpen, den Pyrenäen, den Karpaten sowie in schottischen und skandinavischen Gebirgen. Ihre Aufnahmen verglichen sie mit bis zu hundertjährigen Daten vom jeweils gleichen Standort. Die Ergebnisse zeigen nicht nur, dass die Zahl der Arten auf Berggipfeln überall in Europa zugenommen hat, sondern dass diese Zunahme auch immer schneller vonstattengeht. Grund dafür ist die immer schnellere Erwärmung des Klimas.

Die höheren Temperaturen ermöglichen Arten tiefer gelegener Wiesen, ihr Verbreitungsgebiet gegen oben auszudehnen. Ein weiterer Effekt der Erwärmung ist, dass auch viele Pflanzenarten häufiger geworden sind, die schon früher auf den Gipfeln wuchsen. Doch nicht alle profitieren: Einzelne Spezialisten des Hochgebirges sind zurückgegangen oder gar ganz verschwunden. Rixen: «Es bleibt abzuwarten, ob längerfristig konkurrenzstärkere Arten aus den unteren Lagen die Spezialisten oben ganz verdrängen.»

Blühzeitpunkte gleichen sich an

Das SLF beobachtet diese klimatisch bedingten Änderungen der alpinen Vegetation aber nicht nur anhand historischer und heutiger Vegetationsaufnahmen. Seit 2009 betreuen Rixen und seine Forscherkolleginnen und -kollegen im bündnerischen Val Bercla einen Standort des Internationalen Tundra-Experiments ITEX. In diesem Grossprojekt führen Forschende an über 40 Orten weltweit Langzeitexperimente in arktischen, antarktischen oder alpinen Lebensräumen durch. In Erwärmungskammern – einer Art nach oben offenen Treibhäusern – erzeugen sie höhere Temperaturen und untersuchen, wie sich der simulierte Klimawandel auf die Vegetation auswirkt.

Rixen und sein Team sind jedoch nicht nur für ihren eigenen Standort verantwortlich, sondern beteiligen sich darüber hinaus auch an der weltweiten ITEX-Datenauswertung. In der neusten Veröffentlichung analysierten sie an 18 Standorten langjährige Daten von fast 50 Tundrapflanzen, von Alaska über Spitzbergen bis zu den Färöer-Inseln. Die Standorte weisen mittlere Sommertemperaturen von 2,8 °C bis 11,9 °C auf und widerspiegeln so einen Klimagradienten. Für all diese Versuchsflächen untersuchten die Forschenden unter anderem, wann die Pflanzen im Jahresverlauf Blätter entwickelten, wann sie zu blühen begannen oder wann die Blätter abfielen. Dabei zeigte sich, dass alle untersuchten Arten an den kälteren Standorten deutlicher auf die höheren Sommertemperaturen reagierten als an den wärmeren – der Zeitpunkt der Entfaltungihrer Blätter und Blüten verschob sich im Norden stärker nach vorne als weiter südlich. «Wir gehen davon aus, dass sich die Blühzeitpunkte von Arten aus nördlichen Gebieten immer mehr denjenigen der südlicheren angleichen», sagt Rixen. Liegen die Standorte nicht zu weit voneinander entfernt, können somit Insekten oder der Wind Pollen von südlicheren Blüten auf nördlichere übertragen und umgekehrt und so den Genaustausch zwischen diesen Regionen verstärken.

Wie auch bei der Gipfelflorastudie zeigen diese Resultate, dass sich die Vegetation kalter Regionen unter dem Klimawandel bereits verändert hat – und weiterhin verändern wird, auch wenn nicht überall klar ist, in welche Richtung sich die Artenzusammensetzung verschieben wird. (Christine Huovinen, Diagonal 1/18)

 

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