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Schnee ist ein seltsames Material. Er ist – physikalischgesehen – gar nicht kalt, sondern heiss. Seine Wandlungsfähigkeit hält Schneephysiker und Lawinenforscherinnen, Skientwickler und Reifenfabrikanten auf Trab.

Es beginnt mit einem Stäubchen – einem Kondensationskeim – in einer Wolke. Daran lagert sich Wasserdampf ab und gefriert zu einem Schneekristall. Vereinigen sich mehrere solcher Kristalle, ist eine Schneeflocke geboren: Ein sternförmiges Gebilde aus etwa 100 Trillionen Wassermolekülen, das zu Boden wirbelt und auf anderen Schneekristallen landet.
Was nun wie eine kuschlige Ruhedecke für die stille Winterlandschaft aussieht, ist nach neuen Erkenntnissen der Schneeforschung eine höchst veränderliche Angelegenheit: Kaum gelandet, beginnt unsere Schneeflocke mit ihrer Metamorphose. «Schnee verhält sich anders als die meisten anderen Materialien, das macht seine Erforschung spannend», erklärt Martin Schneebeli. Der Leiter der Forschungsgruppe Schneephysik am SLF untersucht seit Jahrzehnten die Wandlungsfähigkeit von Schnee im Labor, wo sich Einflussfaktoren wie Temperatur, Druck oder Reibung getrennt erkunden lassen.
Ein «heisses» Material
Weit weg vom Schmelzpunkt – zum Beispiel bei –100 °C – verändert sich Schnee kaum. Doch je näher seine Temperatur am Schmelzpunkt liegt, desto mehr geraten die Moleküle in den Schneekristallen in Bewegung. Da Schnee auf der Erde nie weit weg von seinem Schmelzpunkt von 0 °C ist, ist er aus physikalischer Sicht ein «heisses» Material. «Das hat riesige Auswirkungen auf das Materialverhalten», sagt Schneebeli.
Die Schneeflocke wächst an ihren Berührungspunkten mit anderen Eiskristallenzusammen – sie sintert. Dabei entstehen Eisbrücken, welche die Schneeschicht besser verbinden. So wird pulvriger Neuschnee zu stabilem Altschnee. Ohne diesen Sinterungsprozess wäre beispielsweise die Präparation von Skipisten unmöglich, denn es entstünde keine harte, griffige Oberfläche. Am besten funktioniere das bei kleinen Schneepartikeln, aus denen viel Wasserdampf austreten kann, erklärt Hansueli Rhyner, Leiter der SLF-Forschungsgruppe Schneesport. Das ist bei Kunstschnee – Fachleute sprechen von technischem Schnee – der Fall. Er ist somit besser für den Pistenbau geeignet als Naturschnee.
Eine andere physikalische Eigentümlichkeit von Schnee ist sein vergleichsweise hoher Dampfdruck. Das heisst, dass Wassermoleküle gerne direkt vom festen in den gasförmigen Zustand übergehen. An kälteren Stellen heften sich die verdampften Moleküle wieder an andere Eiskristalle. Dabei können neue, zum Beispiel becherförmige Kristallstrukturen entstehen, was Tiefenreif genannt wird. Er bildet gefürchtete Schwachschichten in der Schneedecke, welche die Lawinenbildung begünstigen.

Schnee macht erfinderisch
Schwachschichten zu kennen ist entscheidend, wenn man das Risiko für Lawinenabgänge einschätzen will. Ein Weg dazu sind Schneeprofile, die in schweisstreibender Arbeit ausgegraben und von Hand und Auge vermessen werden. Für Stabilitätstests ist das nach wie vor wichtig, aber der Blick in die Schneedecke geht heute schneller und genauer mit dem am SLF entwickelten SnowMicro-Pen (Snow Micropenetrometer).
Die tragbare Sonde wird auf der Schneeoberfläche platziert, die Spitze bohrt sich in den Schnee und zeichnet alle vier Mikrometer die dafür nötige Kraft auf. Jede Schicht – sei es eine dünne Eiskruste, Tiefenreif oder Neuschnee – gibt ein eigenes Druckwiderstands-Signal ab. Damit lassen sich auch auf grösseren Flächen die Eigenschaften der oft nur wenige Millimeter dicken Schwachschichten messen. Das Gerät sei mittlerweile zu einem Standard für die Schneedeckenbeurteilung geworden, sagt Schneebeli.
Eine weitere Technologie haben die Schneeforschenden der Medizin entlehnt: Die Mikro-Computertomografie (mikroCT), mit der Gewebe zerstörungsfreiuntersucht werden können. Dank einem eigens für Schnee angepassten Gerät im Kältelabor des SLF können sie heute die Verwandlung von Schneeproben über längere Zeit «live» beobachten und die räumliche Anordnung von Eis und Luft im Inneren des Schnees exakt bestimmen. Mit den Daten lässt sich zum Beispiel die Genauigkeit von Schneedeckenmodellen überprüfen.
Je kälter, desto höher die Reibung
Wo immer Schnee im Spiel ist, stellt seine Wandlungsfähigkeit die Technik auf die Probe. Winterreifen etwa müssen auf Schnee bei verschiedenen Temperaturenund von unterschiedlicher Festigkeit möglichst gut haften. SLF-Forschende haben eigens eine Maschine entwickelt, mit der sie die Reibung von Gummi auf Schnee beliebiger Art präzise untersuchen können. Die so gewonnenen Daten nutzen dann Reifenhersteller, um bessere Winterpneus zu entwickeln.
Der Skisport hängt ebenfalls von der Laune des Schnees ab. Ist er zu warm, wird eine rassige Carving-Piste zu zähem Sulz. Ist er zu kalt, bremst er: «Je kälter der Schnee, desto höher die Reibung», erklärt Hansueli Rhyner. Optimal zum Skifahren ist Schnee mit einer Temperatur von –3 bis –5 °C, dann ist der Wasserfilm, auf welchem der Ski gleitet, ideal.
Unsere Schneeflocke ist unter dem Ski wieder zu Wasser geworden. Die permanente Nähe des «heissen» Schnees zu seinem Schmelzpunkt fordert die Schneeforscher heraus – und fasziniert sie. Schritt für Schritt entlocken sie dem variablen Naturstoff seine Geheimnisse, was letztlich dem Lawinenschutz, der Klimaforschung sowie der Auto- und Schneesportindustrie zugutekommt. (Beate Kittl, Diagonal 1/18)