
Landschaft
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Landschaft ist überall. Egal, was wir tun, wir verändern sie. Unsere Landschaftsforschenden schauen genauer hin, damit wir diesen Wandel gemeinsam gestalten können.
Die Linthebene zwischen Walen- und Zürichsee ist die moderne Landschaft des Schweizer Mittellandes: Die Flüsse begradigt, das den Hochwassern abgetrotzte Land intensiv bewirtschaftet. Erschwingliche Häuser, viel Grün – eine typische Landschaft am Rand grosser Agglomerationen. Hier wachsen Bevölkerung, Siedlungsfläche und Verkehr besonders stark; Mensch und Natur kommen sich immer mehr in die Quere. Und über allem thront die prächtige Bergkulisse.
Hier wohnt unser fiktiver Reisebegleiter, nennen wir ihn Jonas Hauser. An seinem Beispiel demonstrieren wir, warum Landschaft nicht nur Fotosujet ist, sondern mit vollem Recht einen eigenen Forschungszweig beansprucht. Hauser, 32, wohnt mit Frau und Tochter in Schänis (SG) in einem Einfamilienhaus gleich neben den Feldern. Die Hausers schätzen das Leben im Dorf, in dem sie auch aufgewachsen sind; für Einkäufe ist das Shoppingzentrum mit dem Auto rasch erreicht. Sie sind so etwas wie die Durchschnittsbewohner dieses Landschaftstyps, wie er auch dem Aargauer Freiamt oder dem Luzerner Seetal entspricht, entworfen aufgrund repräsentativer Umfragen im Rahmen des Forschungsprogramms «Raumansprüche von Mensch und Natur» der WSL.
Bedürfnisse ändern sich
Montagmorgen: Jonas Hauser, Automechaniker, fährt auf der A3 zur Arbeit nach Rapperswil SG. Schon auf seinem Arbeitsweg streifen wir mehrere WSL-Forschungsthemen. Die Autobahn führt am Linth-Kanal entlang, mit dem Hans Konrad Escher vor gut zweihundert Jahren die hochwasserträchtige Linth zähmte. Im Sommer macht Hauser auf Schlauchboot-Fahrten gerne Halt auf den Kiesbänken bei der neuen Aufweitung Hänggelgiessen. Sie schafft Platz nicht nur für Spitzenhochwasser, sondern auch für seltene Tiere und Pflanzen. Ein neuer Wildtiertunnel führt unter der A3 hindurch. In der Studie ENHANCE hat die WSL zusammen mit Partnerinstitutionen erkundet, wie Strassen oder intensive Landwirtschaft die Bestände von Rehen, Insekten oder Fröschen zerschneiden und was Vernetzungsmassnahmen bringen. SozialwissenschafterInnen haben zudem überprüft, ob und wie sich die bei Flussrevitalisierungen neu geschaffene Natur für Erholung suchende Anwohnerinnen erschliessen lässt. Für künftige Projekte gibt der WSL-Handlungsleitfaden «Sozialverträgliche Flussrevitalisierung» Rat.
Mit den Bedürfnissen der Menschen haben sich auch die Einstellungen zu dieser Landschaft gewandelt: Aus einem «traurigen Morast» mit «verpesteter Luft», wie es 1807 in einer Broschüre zur Einwerbung von Finanzmitteln für den Kanalbau hiess, wurde ein «Hort der Artenvielfalt», in dem wieder Biber, Fische und seltene Vögel leben sollen – und für die Familie Hauser ein willkommenes Ausflugsziel. Das macht deutlich, dass eine Landschaft nicht nur aus physischen Dingen besteht. Landschaften definieren sich auch durch emotionale, persönliche Bewertungen: Wem gefallen alte Bauernhöfe oder belebte Parks in der Stadt? Ist eine Wiese wertvoll wegen der Schmetterlinge, des nahrhaften Heus oder ihres Werts auf dem Immobilienmarkt? Aus diesem Grund erfasst die von der WSL und vom BAFU geleitete «Landschaftsbeobachtung Schweiz (LABES)» nicht nur physische Landschaftsqualitäten, sondern auch die Wahrnehmung der Landschaft durch die Bevölkerung (siehe Seite 16). Wegen dieser Vielschichtigkeit ist die Landschaftsforschung ein äusserst interdisziplinäres Forschungsgebiet, das Biologinnen, Sozialwissenschafter und Ökonominnen gleichermassen beschäftigt. Seit 2012 bündelt und koordiniert das Zentrum Landschaft der WSL die vielfältigen Kompetenzen.
Wenig Platz, viele Ansprüche
Die WSL-Landschaftsforschung hat ihre Wurzeln im Naturschutz, als die Vorgängerinstitution der WSL in den 1970er-Jahren die Inventarisierung der Schweizer Hochmoore begann. Mit der Annahme der Rothenthurm-Initiative zum Schutz der Moore 1987 durch das Schweizer Stimmvolk fand auch die sozialwissenschaftliche Landschaftsforschung Einzug an der WSL, um wissenschaftliche Grundlagen für die Inventarisierung der «Moorlandschaften von besonderer Schönheit» zu schaffen. Bald richtete sich der Fokus der Forschung auf die heisseste Konfliktzone: den Siedlungsraum.
Dass die Schweizer Bevölkerung die Zersiedelung kritisch bewertet, hat sie immer wieder bei Abstimmungen gezeigt, etwa zur Zweitwohnungsinitiative 2012 oder ein Jahr später zur Revision des Raumplanungsgesetzes. Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Ressource Boden» (NFP 68) befragten die Landschaftsforschenden der WSL sämtliche Gemeinden der Schweiz, mit welchen Massnahmen sie die Zersiedelung in den Griff zu bekommen versuchen (siehe Diagonal 2/16). Diese Instrumente können nun in weiteren Projekten gezielt evaluiert werden – ein weiterer, wichtiger Pfeiler der WSL-Landschaftsforschung.
Landschaft geht uns alle an, denn viele unserer Entscheidungen wirken sich auf sie aus – seien wir Hausbauer, Pendlerinnen, Golfspieler oder Stimmbürgerinnen. «In der dicht besiedelten Schweiz treffen viele Ansprüche auf kleinem Raum zusammen», sagt Matthias Bürgi, Leiter der Forschungseinheit Landschaftsdynamik an der WSL. Jonas Hauser etwa liebt rasante Abfahrten mit dem Mountainbike, was viele Wanderer gar nicht schätzen, und ärgert sich an Sonntagen über volle Parkplätze an der Linth. Die WSL-Forschung erarbeitet Lösungen für solche Konflikte.
Welche Landschaft wollen wir? Die Antwort hängt stark davon ab, wen man fragt, zeigen Untersuchungen der WSL: Während etwa Einwohner im Alpenraum die traditionelle Kulturlandschaft bevorzugen, wünschen sich Städter in den Bergen eher die Rückkehr der Wildnis und der Grossraubtiere. Auch die Familie Hauser will weiterhin im Grünen wohnen. Und obwohl verdichtetes Bauen das Siedlungswachstum auffangen könnte, soll es in ihrem Dorf auf keinen Fall Hochhäuser geben. Ganz nach dem in den Sozialwissenschaften bekannten Konzept «not in my backyard» (nicht in meinem Hinterhof).
Damit die Landschaftsentwicklung umwelt- und sozialverträglich geplant werden kann, muss man zunächst wissen, wie sich menschliche Eingriffe auf Mensch und Natur auswirken. Diese Fakten liefern die zahlreichen Projekte der Landschaftsforschenden, etwa dazu, wie sich die für Fledermäuse störende Lichtverschmutzung mindern lässt, welche menschlichen und natürlichen Einflüsse Bergwälder verändern oder wie Touristen auf Lawinenverbauungen mit Solarpanels reagieren.
Verzicht auf Freiheit
Mehr Platz für die Natur, ein Verzicht auf Neubauten oder Lenkungsmassnahmen für Sportler schränken die persönliche Freiheit ein und verursachen teilweise auch Kosten. Da will man wissen, ob die Massnahmen die erwünschten Ziele erreichen. Im Projekt «Wirkungskontrolle Biotopschutz Schweiz» etwa überprüft die WSL im Auftrag des BAFU, ob der Schutz von Lebensräumen von nationaler Bedeutung Wirkung zeigt. Ein anderes Projekt evaluiert die Kampagne «Respektiere deine Grenzen», die Pulverschnee-Liebhaber wie den passionierten Freerider Jonas Hauser von Wildschutzzonen fernhalten soll.
«Der Wechsel allein ist das Beständige», hat der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) gesagt – man könnte meinen, er sei Landschaftsforscher gewesen. Oder habe in der Linthebene gewohnt, eine von vier Modellregionen im Forschungsprogramm «Raumansprüche von Mensch und Natur» der WSL. In Workshops von Forschenden und Einheimischen zu positiven und negativen Zukunftsvisionen wurde sehr deutlich: Das Szenario «weiter wie bisher» ist keine Option, es führt zu unerwünschter Zersiedelung (siehe Interview).
Dank der Landschaftsforschung haben die Gemeinden in den Modellregionen ein konkretes Bild, wohin ihre Entwicklung führen soll und welche Einflussmöglichkeiten sie haben. Damit die Schweiz nicht planlos vor sich hin wuchert, sondern so weit wie möglich von allen Beteiligten mitgestaltet wird. Denn auch wenn Frau Hauser sehr gerne in der Stadt shoppen geht – wohnen möchten die Hausers lieber in ländlicher Umgebung. (Beate Kittl, Diagonal 2/17)