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Während einer Woche lernten junge Forschende aus der ganzen Welt Daten, Werkzeuge und Modelle kennen, mit denen sich Muster und Prozesse in der Landschaft analysieren lassen. Als Fallstudienregion diente die Linthebene.

Gemächlich kurvt der Car durch das Tal. Die Reisenden lassen die vorbeiziehende Landschaft auf sich wirken, schiessen Fotos durch die Scheiben oder unterhalten sich, man hört Englisch, Deutsch, Rumänisch, Farsi. Die jungen Frauen und Männer im Car könnten Durchschnittstouristen sein, die die Sehenswürdigkeiten der Schweiz innert kürzester Zeit abklappern. Aber sie fahren nicht von Zürich nach Luzern oder Zermatt, sondern bleiben in der Linthebene, wo Touristen normalerweise keinen Halt machen. Die «Sehenswürdigkeiten», die sie sich anschauen: die Zersiedelung und Zerschneidung der Landschaft, den Escher- und den Linthkanal, den Campingplatz Gäsi am Walensee und das Kaltbrunner Riet.
Während einer kurzen Fahrt auf der Autobahn ist der erhöhte Damm des Linthkanals gut sichtbar. Wiesen und Maisfelder wechseln sich ab, etwas weiter entfernt erheben sich die Berge. Auf einer der Wiesen stehen Störche und erfreuen die Reisenden. Eine von ihnen ist Mahsa. Die 28-jährige Iranerin hat Landschafts- und Umweltdesign studiert und ist zum ersten Mal in der Schweiz. Dass sie heute in diesem Car sitzt, ist auch ein bisschen Glück. Mahsa und die anderen Reisenden nehmen an der Summer School «Landschaftsforschung» teil, die innert kurzer Zeit ausgebucht war, kaum war sie ausgeschrieben. Wie die 23 anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist Mahsa am Vorabend auf dem Kerenzerberg in Filzbach (GL) angekommen. Während einer Woche wird sie hier Daten, Methoden, Werkzeuge und Modelle kennenlernen, die heute in der Landschaftsforschung angewandt werden. Als Fallstudienregion dient die Linthebene. Damit die Teilnehmenden ein Gespür für diese Landschaft entwickeln können, sind sie heute auf Exkursion mit dem Car.

Wie lassen sich Landschaften modellieren?
Es ist kein Zufall, dass die Summer School gerade hier stattfindet: «Die Linthebene ist eine Alltagslandschaft. An ihr lassen sich die diversen Aufgaben der Landschaftsforschung auf kleinem Raum aufzeigen, etwa die Folgen der Zersiedelung, das Vernetzen von Landschaftselementen oder das Planen von Naherholungsgebieten mit Einbezug der Bevölkerung», erklärt die WSL-Landschaftsforscherin Janine Bolliger. Sie hat die Summer School zusammen mit ihrer Kollegin Silvia Tobias konzipiert und organisiert. Die grosse Nachfrage hat die beiden überrascht. «Wir hatten so viele Interessenten, dass wir zwei Summer Schools parallel hätten führen können. Offensichtlich haben wir mit unserem daten- und werkzeugorientierten Angebot eine Nische gefunden.»
Die Teilnehmenden sind aus der ganzen Welt angereist und in sehr unterschiedlichen Landschaften aufgewachsen – etwa in Südafrika, den USA, im Iran, in Vietnam, Pakistan, Ungarn oder Schweden. Trotzdem erscheinen ihnen die Unterschiede zur Schweizer Alltagslandschaft oft gar nicht so gross. «In der Schweiz sind zwar die Siedlungen komplett anders aufgebaut als bei uns. Aber die Landschaft und das komplexe Zusammenspiel zwischen Mensch und Natur sind im Iran sehr ähnlich wie hier», erklärt Mahsa auf einem kurzen Spaziergang vom Aussichtsturm im Kaltbrunnerriet zurück zum Car.
So bunt wie die Gruppe der Studierenden ist, so vielfältig ist auch das Fachwissen, das hier zusammenkommt, etwa in Boden- und Agrarwissenschaften, Ökosystemforschung oder Landschaftsarchitektur. Einige haben eben erst ihre Dissertation begonnen, ein Teilnehmer aus Deutschland hat bereits habilitiert. Und doch verbindet sie ein gemeinsames Interesse: Sie wollen Landschaftsveränderungen – gegenwärtige oder solche, die sich erst in der Zukunft ereignen werden – beurteilen und erforschen, was diese Veränderungen für die Landschaftsmuster bedeuten. Viele haben sich für die Summer School angemeldet, weil sie zum Beispiel den Umgang mit GIS-Daten lernen oder erfahren wollen, wie man eine Landschaft im Computer modelliert.
Üben, üben, üben
Nach der Exkursion fängt die Arbeit an: Während drei Tagen üben sich die Teilnehmenden im Umgang mit Daten aus der Fernerkundung. Sie lernen, wie sich verschiedene Formen der Landnutzung mit dem Computer modellieren und Landschaftsveränderungen visualisieren lassen. Und sie erfahren, wie sich Landschaftsszenarien für die Zukunft einsetzen lassen, die zusammen mit der Bevölkerung erarbeitet wurden. Gleichzeitig vermitteln die Dozentinnen und Dozenten, wie sie als Wissenschafter die Praxis bei Entscheiden zur nachhaltigen Landnutzung unterstützen können. Mit der Summer School, die in Zusammenarbeit mit dem Global Land Programme, den Universitäten Wageningen und Amsterdam und dem Center of Development and Environment (CDE) der Universität Bern entstand, leistet das Zentrum Landschaft WSL einen wichtigen Beitrag zur Ausbildung von Landschaftsfachleuten.
Den Teilnehmenden bleibt nicht viel Freizeit während der Woche auf dem Kerenzerberg. Vor dem Abendessen arbeiten sie in Dreiergruppen an ihren Präsentationen, die sie am Ende der Woche halten werden. Sie haben die Aufgabe, mögliche Landschaftsforschungsprojekte für die Linthebene zu entwerfen, eine Herausforderung in so kurzer Zeit. Doch Janine Bolliger freut sich, dass die Studierenden so viele der vorgestellten Werkzeuge in ihren Projektvorschlägen präsentieren. Auch Mahsa, die Studentin aus dem Iran, ist zufrieden: «Ich habe in dieser Woche zum ersten Mal mit GIS-Daten gearbeitet, das hat mir Spass gemacht. In meiner Doktorarbeit werde ich räumliche Analysen machen, da kann ich das Gelernte gleich anwenden.»
Am Freitag ist die Summer School nach einem letzten gemeinsamen Mittagessen zu Ende. Viele reisen von Filzbach direkt zum Flughafen Zürich. Mahsa bleibt jedoch in der Schweiz. Für sie war die Summer School der Start in einen neuen Lebensabschnitt, denn in zwei Wochen beginnt sie ihre Doktorarbeit an der WSL in Birmensdorf. Während der nächsten vier Jahre wird sie sich mit dem Unterschied urbaner Grünflächen in der Schweiz und im Iran beschäftigen und dabei die Schweiz besser kennenlernen. Doch zuerst steht ein weiteres Abenteuer auf dem Programm: ein Deutsch-Intensivkurs in Zürich. (Lisa Bose, Diagonal 2/17)