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Sonne und Wind

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Mit erneuerbarer Energie in die Zukunft

Die Produktion von Energie aus Wind und Sonne braucht Platz. Die WSL untersucht, welche Konflikte, aber auch Chancen sich in Zukunft dadurchn ergeben können. 

 

Zürich, beim Schaffhauserplatz im Kreis 6: Wie an vielen anderen Orten wird hier ein älteres Mehrfamilienhaus renoviert. Die Liegenschaft ist eingerüstet, überall arbeiten Handwerker. Betrachtet man das Gebäude genauer, fällt die Fassade auf. Dort, wo die mattgrauen Glasplatten noch nicht montiert sind, stehen Kabel hervor. Diese Fassade ist keine gewöhnliche. Sie ist mit Solarzellen ausgerüstet, die zusammen mit der Fotovoltaikanlage auf dem Dach Strom liefern, und zwar mehr, als die Bewohnerinnern und Bewohner verbrauchen werden.

Die Produktion erneuerbarer Energie braucht Platz. Im Fall des Mehrfamilienhauses ist dieser Platz vorhanden, und niemand wird sich an der eleganten Fassade stören. Doch oft kommt es zu Konflikten: An vielen Standorten, die sich grundsätzlich für die Produktion von erneuerbarer Energie eigneten, würden durch den Bau von Windturbinen oder Solaranlagen andere Ökosystemleistungen geschmälert. So stünden weniger Flächen für die Nahrungsmittelproduktion zur Verfügung, der ästhetische Wert einer Landschaft könnte sinken oder der Lebensraum für Tiere und Pflanzen schrumpfen (siehe Diagonal 2/13, S. 30).

Beschränkt man die Produktion auf konfliktarme Standorte, verringert dies das Gesamtenergiepotenzial erheblich. Eine Interessenabwägung ist also nötig, denn die Nutzung erneuerbarer Energieträger bietet auch grosse Chancen. Janine Bolliger und ihre Mitarbeitenden haben im Rahmen des Forschungsprogramms «Energy Change Impact» untersucht, wie viel Energie aus Wind und Sonne in der Schweiz mit geringen Landnutzungskonflikten produziert werden kann und welche Chancen sich dadurch wirtschaftlich ergeben. Für ihre Prognose haben die Forschenden drei zukünftige Landnutzungsszenarien und den erwarteten technologischen Fortschritt berücksichtigt.

 

Chancen durch Verstädterung

Um herauszufinden, mit welchem technologischen Fortschritt in Zukunft zu rechnen ist, führten die Forschenden Interviews mit Fachleuten durch. Technologieexperten schätzen, dass Windturbinen bis 2035 auch bei tiefen Windgeschwindigkeiten effizienter arbeiten dürften als heute und dass sie sich in Zukunft einfacher transportieren und aufstellen lassen. Dies ermöglicht, auch in abgelegenen Regionen Windturbinen aufzustellen. Auch die Effizienz von Solarzellen dürfte um mindestens 20 Prozent gegenüber heute zunehmen. Attraktiver, farbiger oder unsichtbar werden Solarzellen zukünftig zu einer höheren Akzeptanz in der Bevölkerung führen.

Der gewagte Blick ins Jahr 2035: Die Solarenergie kann in Zukunft besser genutzt werden, da die überbaute Fläche in der Schweiz in allen Landnutzungsszenarien zunehmen wird. Dank mehr Dach- und Fassadenflächen für das Anbringen von Solarzellen dürfte das Potenzial der Solarenergie 2035 um 20 bis 50 Prozent höher sein als 2009, abhängig vom gewählten Landnutzungsszenario. Konflikte gibt es wenige, insbesondere wenn man davon ausgeht, dass zum Beispiel neue Generationen von Solarzellen unsichtbar zwischen Glasscheiben Strom produzieren werden. Die Solarenergie dürfte in Zukunft also einen höheren Beitrag leisten, die prognostizierte Energielücke zu füllen, als bisher angenommen.

Anders sieht es beim Windenergiepotenzial aus, da Windturbinen eher Konflikte auslösen als Solaranlagen (Lärm, Ästhetik, Naturschutz). Hier unterscheidet sich das Gesamtenergiepotenzial schon heute massiv vom konflikt­armen Energiepotenzial, und das wird sich wohl auch in Zukunft trotz technologischen Innovationen nicht ändern. Da sowohl Siedlungs- als auch Waldflächen bis 2035 zunehmen werden, wird es zudem weniger geeignete Standorte für Windräder geben. Durch verbesserte Effizienz der Windturbinen kann dieser Verlust zwar wettgemacht werden, doch in allen zukünftigen Landnutzungsszenarien bleibt der Unterschied zwischen möglichem und konfliktarmem Energiepotenzial gross und damit vergleichbar zur heutigen Situation.

Für vier ländliche Regionen der Schweiz (Surselva, Goms, Oberes Emmental und Val de Ruz) schätzten die Forschenden zudem ab, wie die lokale Wirtschaft von der Nutzung der Wind- und Solarenergie profitiert. Die Wertschöpfung ist zwar in den Regionen unterschiedlich, bleibt aber überall unter fünf Prozent des heutigen Wertes. Grund dafür ist die Tatsache, dass die Anlagen mehrheitlich im Ausland hergestellt werden und so den Regionen nur wenig Umsatz, etwa im Unterhalt, einbringen.

Optimale Standorte lassen sich berechnen

Hat Windenergie also keine Chance? Bolliger schränkt ein: «Unsere Ergebnisse gelten für die Schweiz, in der die ‹Schönheit› der Landschaft einen hohen Stellenwert hat. Viele wollen heute eine Landschaft ohne optisch und akustisch störende Windräder, doch die gesellschaftliche Akzeptanz könnte sich in Zukunft ändern.» Klar ist, dass nicht alle infrage kommenden Standorte für Windturbinen auch geeignet sind. «Optimal ist ein Standort, an dem der Gewinn durch die produzierte Windenergie dem Verlust an Ökosystemleistungen mindestens die Waage hält», sagt Felix Kienast, Leiter des Zentrums Landschaft und Professor für Landschaftsökologie an der ETH, «entsprechende Abschätzungen erleichtern natürlich die Standortsuche und den Bauentscheid.» Möglich macht solche Vergleiche eine Optimierungssoftware. Mit ihr haben Kienast und seine Kollegen Standorte für Windturbinen errechnet, an denen möglichst wenig Ökosystemleistungen verloren gehen, gleichzeitig aber die grösstmögliche Energieleistung erbracht werden kann. So kann die Anzahl störender Windturbinen denkbar klein gehalten werden.

Am Schaffhauserplatz in Zürich waren keine Konfliktabwägungen nötig. Im Herbst 2016 soll das Mehrfamilienhaus fertig umgebaut sein und Strom produzieren. Noch wird seine glatte Fassade herausstechen aus den Nachbarhäusern mit ihren verputzten Mauern – doch vielleicht nicht mehr lange. (Lisa Bose, Diagonal 2/16)