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Forschung und Praxis

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Zwischen Elfenbeinturm und Ernstfall

Kaum zwei Stunden lang fegte der Sturm «Vaia» in der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 2018 durch die Schweiz. Danach bot sich im Albulatal, im Oberengadin und im Puschlav ein trauriges Bild: Bäume waren geknickt wie Zahnstocher, grosse Flächen sahen aus wie kahlrasiert. Der Orkan mit Windspitzen von bis zu 210 km/h hatte im Kanton Graubünden in kürzester Zeit gut hundert Hektaren Schutzwald umgelegt, der Siedlungen vor Lawinen, Rutschungen und Steinschlag schützen soll. Ähnlich viel Schutzwald zerstörte der berüchtigte Sturm «Burglind» vom 3. Januar 2018.

Die Förster standen vor drängenden Fragen: Sturmholz räumen, was eine sehr gefährliche Arbeit ist, oder liegen lassen? Ist der Schutz vor Naturgefahren noch gegeben? Droht eine Borkenkäferplage? Antworten darauf, so vermutete die Regionalforstingenieurin Claudia Bieler vom Bündner Amt für Wald und Naturgefahren, kann die WSL liefern. Deshalb bat sie um eine Beratung vor Ort. «Ich wollte erreichen, dass alle betroffenen Förster auf dem aktuellsten Wissensstand sind», erklärt Bieler.

 

Wenn die Natur mit voller Wucht zuschlägt und Wälder plättet oder ganze Bergflanken zu Tal donnern lässt, dann gerät das Erfahrungswissen der Praktikerinnen und Praktiker an seine Grenzen. Vor allem nach Extremereignissen – seien es Stürme, Überflutungen wie im Jahr 2005 oder Bergstürze wie in Bondo 2017 – ist das Spezialwissen der Forschenden gefragt. «Wir haben einen Gesamtüberblick über das Thema sowie mehr Zeit und Möglichkeiten für Vergleiche mit anderen Ländern und Regionen», sagt Peter Bebi, Schutzwaldexperte am SLF. Die Forschenden können etwa auf internationale Erfahrungen mit unaufgeräumten Sturmflächen zurückgreifen.

Konkrete Wissensgrundlagen für die Praxis zu schaffen, ist seit ihrer Gründung 1885 ein Kernauftrag der WSL – damals noch die «Centralanstalt für das forstliche Versuchswesen». Zu jener Zeit ging es unter anderem darum, wie Waldfachleute die stark übernutzten Wälder wieder fit für den Naturgefahrenschutz machen konnten. Auch heute noch führen Fachleute von WSL und SLF auf Anfrage von Behörden und Ingenieurbüros Workshops und Ausbildungen durch, geben Gutachten ab oder unterstützen Sicherheitsverantwortliche vor Ort bei Risikoanalysen. Ihre Forschungserkenntnisse bereiten sie in Form von Leitfäden, Merkblättern und Berichten für die Praxis auf. Insbesondere ihre Ereignisanalysen, also die umfassende rückblickende Auswertung der Vorgänge bei einer Naturkatastrophe, geben den lokalen Verantwortlichen wertvolle Grundlagen, um sich für ähnliche Ereignisse zu rüsten.

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Erfahrungen teilen

Im Fall des Sturms «Vaia» stapfte Peter Bebi gemeinsam mit anderen Forschenden von der WSL im Winter 2018/19 mehrfach mit den Förstern durch Windwurfflächen. «Wir konnten den Förstern direkt die Erfahrungen aus den Stürmen Vivian 1990 und Lothar 1999 vermitteln», sagt er. «Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es viele Gründe, Sturmholz liegen zu lassen.» Die ausgerissenen Wurzelteller und Stämme sorgen meistens noch für genügend Schutz vor Lawinen und Steinschlag. Wo Risiken durch Borkenkäfer vertretbar sind, kann deshalb vermehrt diesem natürlichen Schutz vertraut werden. Dazu gibt es zwar auch gedruckte Publikationen, aber «bei gemeinsamen Begehungen können die Förster direkt Fragen stellen und erhalten den neusten Stand des Wissens aus erster Hand», sagt Forstingenieurin Bieler, die früher selbst am SLF gearbeitet hat und deshalb gute Kontakte zur Forschung hat.

Peter Bebi, seit 2006 Leiter der Gruppe Gebirgsökosysteme am SLF, hat schon Dutzende solcher Exkursionen und Begehungen im Bergwald geleitet. Er ist nicht nur erfahrener Gebirgswald-Ökologe, sondern auch Mitglied der Gebirgswaldpflegegruppe (GWG), in der sich seit 1986 Forstfachleute und Wissenschafter zusammen für die beste Pflege der Schutzwälder einsetzen. Eine entsprechende Gruppe gibt es auch für Naturgefahren allgemein, die Fachleute Naturgefahren Schweiz (FAN), in der Bund, Kantone, Private, Forschung sowie Versicherungen vertreten sind. Präsident ist der WSL-Geomorphologe Christoph Graf. Beide Gruppen bieten ihren Mitgliedern regelmässige Weiterbildungen an und fördern den regen Austausch zwischen Forschung und Praxis.

Extreme Ereignisse bewältigen

Wie beim Sturm «Vaia» gelangen Praktiker meist bei einem konkreten Ereignis oder mit ungelösten Problemen an die WSL. Der Kanton Graubünden beispielsweise wünschte sich klarere Verfahren, um Gebiete mit einem Risiko für Gleitschneelawinen auf Gefahrenkarten festzuhalten. «Dann schreiben wir direkt einen Wissenschafter mit viel Erfahrung in dem Gebiet an», sagt Christian Wilhelm, Bereichsleiter Naturgefahren und Schutzbauten beim Bündner Amt für Wald und Naturgefahren. Aus dem Auftrag ging unter anderem ein WSL-Bericht für die Praxis hervor.

Auch private Ingenieurbüros suchen die Kooperation mit der Wissenschaft. «Wir pflegen bewusst einen engen Austausch mit Forschenden», sagt Daniel Tobler von Geotest, einer Firma im Bereich des Umwelt- und Geo-Engineering, auch er ein FAN-Mitglied. Zum Beispiel könnten sie den Einsatz von neusten Techniken und Geräten, wie Radar oder Laser zur Überwachung von Gesteinsbewegungen, von den Forschenden lernen. «Wenn man sich mit grossen, komplexen Projekten oder Naturgefahrenereignissen beschäftigt, dann geht es gar nicht ohne die Forschung.» Sie verfügt über Erfahrung und modernste Methoden, welche die Kapazitäten von Privaten sprengen würden. Umgekehrt fragen WSL-Mitarbeitende immer mal wieder seine Firma an, zum Beispiel, wenn sie auf der Suche nach einem geeigneten Ort für ein bestimmtes Projekt sind.

Anregungen für Forschungsprojekte

Auch SLF-Forscher Bebi betont, dass beide Seiten von einem engen Kontakt profitieren: «Wir lernen viel von der Praxis». Viele Fragen von Fachleuten «von der Front» münden in kleinere oder grössere Forschungsprojekte. Eine nicht geräumte «Vaia»-Fläche im Val Tuors bei Bergün bleibt als Forschungsfläche erhalten, damit Bebi und seine Kollegen untersuchen können, in welchem Ausmass die Restbestände Lawinen zurückhalten. Auch die Frage eines Engadiner Försters, wann Eingriffe in einschichtigen, dichten Fichtenbeständen förderlich sind, wurde direkt in einer Masterarbeit an der WSL angegangen.

Nebst diesen Anregungen «von unten» hat die WSL auch Aufträge von «ganz oben», von Kantonen und vom Bund. Darunter sind vier gesetzlich vorgeschriebene Aufgaben: der Lawinenwarndienst, die langfristige Waldbeobachtung (Landesforstinventar, Sanasilva, LWF, Naturwaldreservate), die Überwachung der Waldgesundheit sowie die wissenschaftlich-technische Betreuung von Massnahmen gegen Waldschädlinge und -krankheiten. Häufig führen Anstösse von aussen zu langfristigen Kooperationen, wie etwa beim Frühwarnsystem für Sihl-Hochwasser für die Stadt Zürich, das beim Bau des neuen Tiefbahnhofs dringend notwendig wurde und bis heute weitergeführt wird. Sogar die Bundesversammlung liefert manchmal Anregungen für neue Forschung. So mündete die Forderung des Parlaments nach verstärkter Forschung zur Energiezukunft der Schweiz in acht Forschungskompetenzzentren (SCCER), in deren Rahmen die WSL diverse Energieprojekte lancierte.

An sich funktioniert der Austausch von Forschung und Praxis also sehr gut. Allerdings befindet sich die WSL in einem Spannungsfeld zwischen Praxis und Wissenschaft, denn sie muss sich auch in der Spitzenforschung behaupten. Diese ist das Fundament für praktische Anwendungen gemäss den neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Doch ihre Resultate werden üblicherweise zuerst als Fachartikel in wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert, die meist auf Englisch geschrieben sind, und nicht primär in Berichten für Förster und Geoningenieurinnen. Manche Forschende bemängeln, dass die eigentliche Umsetzungsarbeit Zeit sei, in der sie keine Publikationen schreiben könnten und für die sie vom Wissenschaftsbetrieb wenig Anerkennung bekämen.

Der Publikationsdruck macht sich auch für die Praxis bemerkbar: «Die Forschung liefert neue Erkenntnisse heute mehr als früher in kleinen Häppchen», sagt Christian Wilhelm. «Für uns ist es manchmal schwierig abzuschätzen, bei welcher Neuerung wir unsere Praxis bereits anpassen müssen.» Generell seien neue Forschungserkenntnisse aber «sehr, sehr wichtig» für die Praxis. «Ständig verbesserte Modelle und Methoden sind das Fundament für einen wirksamen Naturgefahrenschutz.»
(Beate Kittl, Diagonal 2/19)

 

 

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