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Waldreservate

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Zurück zum Urwald?

Was passiert, wenn Wälder nicht mehr bewirtschaftet werden? Die Forschung in Naturwald­reservaten liefert Antworten.

«Haben Sie denn eine Fahrbewilligung?», erkundigt sich eine Spaziergängerin skeptisch, als das WSL-Auto am Rand der Teerstrasse hält, die durchs Schlierental führt. Aus dem Auto steigt Lucien Schoch, ein junger, mit Farbe bekleckerter Zivildienstleistender. «Ja natürlich», antwortet er. Die Passantin geht weiter. Sie scheint schon länger nicht mehr unterwegs gewesen zu sein in diesem idyllischen Hochtal oberhalb von Sarnen (OW), denn das WSL-Auto parkiert hier jeden Morgen, schon seit über drei Wochen.

Nach einem kurzen Wegstück durch eine Weide taucht Schoch ein in den «Seeliwald» – ein Naturwaldreservat, das in einem der bei uns selten gewordenen Hochmoore liegt. Die weichen Torfmoose, die vielerorts den Untergrund bilden, sind vollgesogen mit Wasser, das bei jedem Schritt neben den Schuhsohlen hervorquillt. An den kniehohen Heidelbeersträuchern hängen haufenweise blaue Früchte. Und überall wächst die Aufrechte Bergföhre mit ihren grauen Stämmen, meist klein, mal locker, mal dichter verteilt auf dem moosigen Untergrund. Auffällig viele Bäume sind abgestorben, aber ihre Wurzeln halten sie immer noch aufrecht. Es ist nicht nur diese Art von Vegetation, es ist auch die Stille – ausser einigen Vogelrufen ist überhaupt nichts zu hören –, die an Skandinavien erinnert und die die Hektik der Stadt weit wegrücken lässt.

Natürliche Dynamik statt Holzertrag

Seit rund 60 Jahren beobachtet die ETH Zürich, wie sich der Wald in Naturwaldreservaten wie dem Seeliwald entwickelt – Wälder, die nach früherer Nutzung heute vertraglich gesichert der Natur überlassen sind. Dieser Schutz garantiert, dass der Wald seinen Entwicklungsprozess ungestört durchlaufen kann, die Bäume also ohne menschlichen Eingriff keimen, wachsen, altern, absterben und sich zersetzen. Und so auch vielen Tier- und Pflanzenarten Lebensraum bieten, die in bewirtschafteten Wäldern selten sind. Seit 2007 leiten ETH und WSL das Projekt gemeinsam, wobei das Bundesamt für Umwelt (BAFU) sie stark unterstützt. Inzwischen umfasst das Monitoring 49 Reservate – im Vergleich mit dem übrigen Europa verfügt die Schweiz über ein vielfältiges Netzwerk an relativ alten Naturwaldreservaten. Der auf rund 1450 m ü. M gelegene Seeliwald ist mit seinen 80 ha eine der grösseren Flächen. Er steht seit 1972 unter Schutz, als die ETH mit der Korporation Schwendi – der Waldeigentümerin – einen Vertrag abschloss.

Wie viele andere Reservate aus der Anfangszeit wächst der Seeliwald an einem ertragsarmen Standort. Mit den sauren, nährstoffarmen und nassen Moorböden kommt nur die Bergföhre zurecht, und auch sie gedeiht nur sehr langsam. Ausserdem sind die Torfmoosböden schlecht befahrbar. Möglicherweise liess sich die Besitzerin dank dieser eher ertragswidrigen Umstände leichter überzeugen, ihren Wald unter Schutz stellen zu lassen – zumal der Nutzungsverzicht finanziell abgegolten wird. Viel schwieriger war und ist es auch heute noch, grosse Wälder auf produktiven Flächen als Reservate auszuscheiden. Nicht zuletzt deshalb ist der Flächenanteil der Waldreservate im Mittelland schweizweit am geringsten (siehe Infografik).

 

Bäume über die Zeit verfolgen

«Da bist du ja endlich», ruft Jonas Stillhard Schoch entgegen und setzt augenzwinkernd nach: «Hast du dich verlaufen?» Der 33-jährige Umweltingenieur und sein Team – ein weiterer Zivi, David FitzGerald, sowie die beiden technischen Mitarbeiter Gilbert Projer und Gallus Keller – waren an diesem Morgen schon früher als Schoch in den Seeliwald aufgebrochen. Während Stillhard die Bäume mit einer Drahtbürste reinigt, nimmt FitzGerald ein Stempelset zur Hand: «73», «85», «95» – die Bäume erhalten farbige Nummern, sobald sie dicker als 4 cm sind. Die blau bemalten Bäume stehen in einer der sechs rund 1 ha grossen Dauerflächen. Bei jeder Dauerflächenaufnahme – im Seeliwald ist das jetzt seit der Reservatsgründung schon die vierte – wird das Schicksal der markierten Bäume genauestens verfolgt. Stillhard: «Wir messen den Durchmesser, notieren die Baumart und erfassen Strukturen wie Löcher und Risse, die wichtige Lebensräume für Tiere, Pilze und Pflanzen sein können.»

Stillhard übergibt die Drahtbürste an Schoch und lässt die beiden Zivis alleine Bäume markieren. Weiter geht’s zu den Stichprobeflächen – eine der Neuerungen, die 2007 eingeführt wurden. Insgesamt 99 dieser je 500 m2 grossen, kreisförmigen Flächen gibt es im Seeliwald, angeordnet in einem fixen Raster, verteilt über das ganze Reservat. Projer und Keller haben soeben die Stichprobefläche 56 in Angriff genommen. Sie hantieren mit Transponder und Vertex – Geräte, die auch Landvermesser zum Ermitteln der Distanz zwischen zwei Punkten benutzen. Keller weist Projer an, welchen Baum er ansehen muss. Projer misst auf Brusthöhe mit der sogenannten Kluppe den Durchmesser. Keller wiederum ermittelt über den Vertex die Baumhöhe, begutachtet den Zustand des Baums – ob er lebend ist oder tot oder wie seine Krone beschaffen ist – und gibt alle Daten gleich in den Feldcomputer ein. Nach einem vorgegebenen Protokoll nehmen sie auch auf, ob junge Bäumchen aufwachsen und wie viel totes Holz in der Fläche liegt. Ist sich der eine unsicher bei der Beurteilung, kommt ihm der andere zu Hilfe – ein eingespieltes Team, dem man anmerkt, dass es während Monaten fast täglich zusammen unterwegs ist. Zwischendurch hilft auch Stillhard mit bei den Feldaufnahmen, so wie während der letzten Tage im Seeliwald. Häufiger jedoch sitzt er im Büro, koordiniert die Feldarbeit seiner Kollegen oder widmet sich der Datenbank, in der alle Aufnahmedaten des Reservatsprojekts gespeichert sind. Zurzeit arbeitet er daran, sämtliche Daten seit 1948 in eine neue Datenbank zu überführen und dabei Fehler auszumerzen. Stillhard: «Über die Jahre arbeiten so viele verschiedene Leute bei diesem Projekt mit, dass es schon mal zu Fehlern kommen kann.»

Ein neuer Urwald entsteht

Zahlreiche Forschungsarbeiten sind dank der Daten aus dem Reservatsprojekt inzwischen entstanden. Eine der Studien konnte zeigen, dass die Reservate bereits jetzt erste Kennzeichen eines Urwaldes aufweisen, mehr Totholz oder mehr dicke Bäume als im Wirtschaftswald zum Beispiel. Soll diese Entwicklung weitergehen, ist jedoch ein Schutz der Reservate nötig, der weit über die Dauer der üblichen Vertragsperiode von 50 Jahren hinausgeht. Und auch dann wird nicht ein Urwald entstehen, wie er die Landschaft vor der Holznutzung prägte, sondern eine neue Art von Urwald: ein Naturwald eben. Denn unterdessen haben sich die Bedingungen verändert; das Klima wird wärmer, Grossraubtiere fehlen, um die wachsenden Wildbestände zu regulieren, und über die Luft gelangt mehr Stickstoff in den Waldboden.

Im vergangenen Jahr untersuchte eine Masterstudentin erstmals, wie viel Totholz in fichtendominierten Gebirgswaldreservaten liegt. Solche Kennzahlen sind wertvolle Referenzwerte für Empfehlungen, wie viel Totholz nötig ist, um davon abhängige Arten auch in bewirtschafteten Wäldern zu fördern. Ebenfalls im letzten Jahr erschien eine Doktorarbeit, in der basierend auf dem riesigen Datensatz Modelle für die Sterblichkeit von Bäumen verschiedener Arten entwickelt wurden. Eine Forschung, die auch den Besitzern von bewirtschafteten Wäldern zugutekommt. Stillhard: «Wenn wir zum Beispiel sehen, dass sich eine wertvolle Nebenbaumart in Naturwaldreservaten auch ohne kostspielige Pflegeeingriffe in ausreichender Anzahl und guter Qualität durchsetzen kann, entlastet das beim momentan niedrigen Holzpreis das Portemonnaie der Waldbesitzer.»

Nach einem langen Feldtag packen Projer, Keller und Stillhard ihre Sachen zusammen – sechs Stichprobeflächen haben sie heute geschafft. Die beiden Zivis warten schon beim Auto. Insgesamt dauert die Inventur im Seeliwald, die erst in 10 bis 20 Jahren wiederholt wird, rund drei Monate. Bis dahin werden die Männer fast 7000 Bäume unter die Lupe genommen haben – eine Arbeit, die ihnen auch heute noch keine moderne Technik abnehmen kann. (Christine Huovinen, Diagonal 1/17)

 

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