Navigation mit Access Keys

Doppelpass

Hauptinhalt

 

Hohe Artenvielfalt durch Schutz und Nutzung

Waldreservate bieten bedrohten Tier- und Pflanzenarten Lebensraum. Doch auch in Wirt­schaftswäldern kann die Artenvielfalt hoch sein. Ein Gespräch mit Kurt Bollmann, WSL, und Ulrich Mergner, Bayerische Staatsforsten.

 

«Hohe Nutzungsintensität kann unter bestimmten Voraus­setzungen zu hohem Artenreichtum führen.»

In Waldreservaten ist der Wald vertraglich geschützt. Bis 2030 sollen sie in der Schweiz 10 Prozent der Waldfläche ausmachen. Was sagen Sie zu diesen Forderungen?

UM: Für die Artenvielfalt ist es egal, ob das fünf, acht oder zehn Prozent sind, entscheidend sind die Habitatstrukturen wie Baumhöhlen, rissige Rinden oder abgestorbene Äste, die vielen Arten einen Lebensraum bieten. Einen 08/15-Wald
aus der Nutzung zu nehmen, damit man eine Prozentzahl erfüllt, halte ich nicht für zielführend. In unserem Forstbetrieb Steigerwald haben wir Flächen ausgeschieden, wenn es dort eine Häufung von Bäumen mit Habitatstrukturen gab. Mit über 200 Trittsteinflächen, 10 Biotopbäumen pro Hektar und den Waldreservaten kommen wir so auf 12 Prozent ungenutzte Fläche.

KB: Die Zahl ist politisch begründet und wurde nicht wissenschaftlich hergeleitet. Anfänglich wurde zu stark um Prozentzahlen gefeilscht und zu wenig um Inhalte. Um die Artenvielfalt zu erhalten, braucht es neben Strukturen und Nutzungsvielfalt auch natürliche Prozesse wie Stürme, Waldbrände oder Überschwemmungen. Dadurch werden neue Lebensräume geschaffen, die gewisse Arten aus dem Dornröschenschlaf wecken können. Die Salbeiblättrige Zistrose im Tessin zum Beispiel kann nach einem Feuer plötzlich wieder da sein. In einer bewirtschafteten Landschaft braucht es darum verbindlich geschützte Gebiete, in denen natürliche Prozesse Lebensräume gestalten. Dort können sich bei optimalen Lebensbedingungen starke Populationen entwickeln und sich von dort ausbreiten.

Wie natürlich sind Naturwald­reservate eigentlich?

UM: Bei uns ist jeder Quadratmeter, ob Naturwaldreservat oder bewirtschafteter Wald, in den letzten Jahrhunderten kahlgeschlagen worden. Urwald gibt’s hier und
in praktisch ganz Deutschland nicht mehr. Aber in den Naturwald­reservaten haben wir vielleicht das Arteninventar eines Urwalds zu 60 bis 70 Prozent, das ist eine Art Lebensversicherung. Sie entwickeln sich, was die Strukturen und Pro­zesse anbelangt, schon in Richtung der Wälder, die ich in Rumänien und im Iran als Urwälder gesehen habe.

Sind unberührte Wälder denn artenreicher als bewirtschaftete?

KB: Der Mittelwald zum Beispiel entsteht durch eine sehr intensive Waldnutzung. Von den alten Bäumen wird nur ab und zu eine Eiche genutzt, der Jungwuchs wird alle 10 bis 20 Jahre kahlgeschlagen. Der Naturschutz begrüsst diese Art der Waldbewirtschaftung, weil sie vorübergehend licht- und wärmebedürftigen Arten Lebensraum bietet. Dieses Beispiel zeigt, dass hohe Nutzungsintensität unter bestimmten Voraussetzungen auch zu hohem Artenreichtum führen kann.

Unter welchen Umständen soll man in ein Naturwaldreservat eingreifen?

UM: In unsere Naturwaldreservate wird nicht eingegriffen. Gelegentlich schaffen Stürme Lücken. In diesen wachsen jedoch meist Buchen mit erdrückend hoher Dominanz im Vergleich zur Eiche. Wahrscheinlich verlieren wir deshalb die Eiche. Diese Diskussion verwirrt die Naturschützer. Die Hardliner sagen, «Natur ist Natur, dann fliegt die Eiche halt raus.» Andere sagen, «ihr könnt doch nicht zulassen, dass
die Eiche verschwindet». Letztere wollen im Naturwaldreservat pflegen. Also das lassen wir bleiben, wir können die Eiche im Wirtschaftswald schützen und als Einzel­baum erhalten. Vielleicht gibt’s irgendwann Ereignisse, wo sich alles ändert, etwa mit der Klimaerwärmung.

KB: Früher hatten wir eine klare Vorstellung, welche Arten auf gewissen Standorten in natürlichen Anteilen vorkommen sollten. Die heutige Wald- und Klimaforschung lehrt uns, dass wir uns an Veränderungen anpassen müssen. Das Beispiel der Eiche und der dominanten Buche zeigt, dass Naturwaldreservate keine Breitbandlösung für alle Naturschutzfragen sind. Es braucht auch Sonderwaldreservate und
einen ökologisch ausgerichteten Waldbau.

Wieso wird vor allem in den Reservaten geforscht?

KB: Die ökologische Forschung untersuchte die Natur über Jahrzehnte dort, wo der Mensch nicht konstant seine Finger drin hat, also in Nationalparks und Reservaten. Das festigte die Meinung, dass sich die «richtige» Natur auf solche Gebiete beschränkt. Die genutzte Landschaft liess man aussen vor. Insofern hat die waldökologische Forschung eine Schlagseite, hier sehe ich einen Nachholbedarf.

UM: Für uns waren und sind die Untersuchungen im Naturwaldreservat sehr wichtig. So wissen wir, was für Arten es dort gibt, und können einen Vergleich mit dem Wirtschaftswald ziehen. Im Wirtschaftswald wollen wir alle Arten des Naturwaldreservats – nicht von der Dichte, aber von der Anzahl her. Ich stimme Kurt Bollmann aber voll zu, dass im bewirtschafteten Wald zu wenig geforscht wurde. Die Forschung in den Reservaten sehe ich aber nicht als Nachteil, da wir auch weiterhin den Vergleich brauchen.

Im Sonderwaldreservat wird zugunsten gewisser Arten eingegriffen. Wie wird entschieden, welche Art man fördern will, zum Beispiel das Auerhuhn?

UM: Das ist Geschmackssache. Es gibt keinen vernünftigen Grund, gerade das Auerhuhn zu fördern. Der Vogel hat allerdings schon immer die Jäger beeindruckt. Es war die hohe Kunst, den Auerhahn anzupirschen. Nun wird grosser Aufwand betrieben, mit allen möglichen Massnahmen dieses Auerhuhn zu erhalten, obwohl sich der Lebensraum verändert hat. In bestimmten Regionen machen wir bei diesen Programmen mit, weil der Naturschutz dies fordert. Ich persönlich halte es für einen ziemlichen Humbug, sich beim Artenschutz auf nur eine Art zu fokussieren und billigend in Kauf zu nehmen, dass dann möglicherweise andere Arten weichen müssen.

KB: Es gibt keinen fachlichen Grund, das Auerhuhn einem Tot­holzkäfer vorzuziehen. Das Beispiel zeigt, dass Naturschutz mit menschlichen Werten, Normen und Prio­ritäten zu tun hat. Oft ist es auch der Nimbus einer Art, der durch die Literatur, die Jagd, durch Lieder und die Volkskunst hochgehalten wird. In der Schweiz sehen wir das etwas nüchterner als unsere Nachbarn. Bevor 2008 das nationale Förderungsprogramm für das Auerhuhn gestartet wurde, mussten Fakten her. Die WSL konnte zeigen, dass unter dem Schirm des Auerhuhns auch andere seltene Arten profitieren, wenn geschlossene, dunkle Gebirgswälder aufgelichtet werden.

UM: Damit könnte ich mich anfreunden, eine Schirmart, die für ganz viele Arten steht. Bei allen Überlegungen zum Schutz von Waldarten sollte aber der naturnahe Lebensraum mit ausreichend viel Biotopbäumen und Totholz im Mittelpunkt stehen. (Lisa Bose, Diagonal 1/17)

 

Weiter Artikel zum Schwerpunktthema

Zurück zum Urwald?

Was passiert, wenn Wälder nicht mehr bewirtschaftet werden? Die Forschung in Naturwaldreservaten liefert Antworten.

Partnerschaftliche Urwaldforschung nützt beiden Seiten

Dank Studien in Urwäldern in der Ukraine und in Bulgarien verstehen wir besser, wie sich Schweizer Wälder entwickeln.

Auf die Qualität kommt es an

Trotz mehr Totholz in Schweizer Wäldern ist die Hälfte aller holzbewohnenden Käferarten bedroht.

Waldreservate, unbewirtschaftete Wälder und Nutzwälder in der Schweiz

In der Schweiz sind bislang rund fünf Prozent der Wälder als Reservate geschützt. Vor allem auf der Alpensüdseite und in den Alpen werden viele...