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Totholz

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Auf die Qualität kommt es an

Obwohl die Totholzmenge in Schweizer Wäldern weiterhin zunimmt, ist die Hälfte aller holzbewohnenden Käferarten bedroht. Es mangelt an Totholz geeigneter Qualität. 

 

Von wegen tot: Totholz, also abgestorbene Bäume oder Baumteile, gehört zu den artenreichsten und wichtigsten Lebensräumen im Wald. Etwa ein Viertel aller im Wald lebenden Arten ist auf Totholz angewiesen – in der Schweiz sind das allein etwa 2700 Grosspilze, 150 Flechten- und 1700 Käferarten. Dazu kommen grössere Tiere wie Spechte, Siebenschläfer, Fledermäuse und manche Reptilien. Ausserdem wächst jede zweite junge Fichte im Gebirgswald auf vermodernden Baumstämmen heran.

Fast die Hälfte aller Totholz bewohnenden Käferarten ist gefährdet: Sie stehen auf der vom Bundesamt für Umwelt (BAFU) veröffentlichten Roten Liste, die vier grosse Holzkäferfamilien umfasst. «Das zeigt, dass wir ein Problem haben», sagt ein Mitautor der Roten Liste, Thibault Lachat, Gastwissenschafter an der WSL und Professor an der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften HAFL. Das BAFU nennt den Mangel an Totholz «eines der grössten ökologischen Defizite im Schweizer Wald». Zwar nimmt die Menge an Totholz in den Schweizer Wäldern seit der Umstellung auf Öl als Brennstoff kontinuierlich zu – bis heute, wie die Zahlen des an der WSL durchgeführten Schweizerischen Landesforstinventars (LFI) belegen. Einen grossen Schub brachten die Orkane Vivian (1990) und Lothar (1999) sowie die mangelnde Rentabilität der Holzernte in vielen Regionen. Gemäss LFI wird fast ein Fünftel der Schweizer Waldbestände seit über 50 Jahren nicht mehr bewirtschaftet (siehe Infografik). Zudem kennen viele Waldbesitzer und -bewirtschafter heute den ökologischen Wert von Totholz, schützen alte, lebende Bäume mit Höhlen und absterbenden Ästen, sogenannte Habitatbäume, und lassen Holzerntereste liegen.

Im Durchschnitt liegen heute auf einer Hektare Schweizer Wald 24 m3 Tot­holz, damit könnte man etwa 200 Badewannen füllen. Das ist schon recht nah an den Zielwerten, die der Bund in der Waldpolitik 2020 zur Förderung der Artenvielfalt definiert hat: Bergwälder sollen 25 Kubikmeter pro Hektare, Wälder im Mittelland 20 m3/ha enthalten. Von Natur- oder gar Urwäldern sind diese Werte indes weit entfernt: Nach einigen Jahrzehnten ohne Nutzung gibt es in Naturwaldreservaten zwischen 50 und 130 m3/ha Totholz, in Urwäldern im Schnitt sogar 140 m3/ha. «Es ist schon mal gut, Zielwerte zu haben», sagt Beat Wermelinger, Insektenspezialist an der WSL, auch wenn sie seiner Meinung nach eher das politisch Machbare als das Nötige spiegeln. «Das Erreichen dieser Zielwerte würde die Bedürfnisse von vielen, wenn auch nicht den hochspezialisierten Arten grossflächig abdecken.» In seinem neuen Buch «Insekten im Wald» widmet er den Totholzarten sowie den gefährdeten Waldin­sekten je ein eigenes Kapitel.

 

Auen und lichte Wälder schwinden

Warum stehen denn trotzdem so viele Totholzarten auf der Roten Liste? Mangelware ist vor allem Totholz von besonderer Qualität. Gemäss Lachat sind Habitatbäume, aber auch stehende oder liegende dicke, besonnte tote Baumstämme sowie Holz in fortgeschrittenen Abbaustadien sehr selten geworden. Im Wirtschaftswald werden Bäume lange vor ihrem «Greisenalter» gefällt: Eine Weisstanne kann 500 bis 600 Jahre alt werden, wird aber meistens mit 90 bis 130 Jahren geerntet.

Alte Bäume, lichte Auen- und Laubwälder in tiefen Lagen, gestufte Wald­ränder, Kastanienselven oder Hochstamm-Obstbäume – genau auf diese heutzutage seltenen Lebensräume sind jene 118 einheimischen Holzkäferarten angewiesen, die auf der Roten Liste stehen. Um diese Liste zu erstellen, haben Artenspezialisten 256 Arten von Pracht-, Bock-, Rosenkäfern und Schrötern von Hand mit Keschern, Klopfschirmen oder Fallen gefangen, und zwar an insgesamt 240 Standorten in der Schweiz, auf denen das Vorkommen seltener Arten vermutet wurde. Fast die Hälfte der Arten aus diesen vier grossen Familien (46 %) wurde gemäss den Kriterien der Weltnaturschutzunion IUCN als bedroht auf der Roten Liste eingestuft, weitere 47 Arten (18 %) als potenziell gefährdet.

Wichtigste Empfehlung der Roten Liste ist es denn auch, die Lebensräume für diese spezialisierten Arten zu fördern. Wie das gehen soll, zeigt das WSL-Merkblatt für die Praxis «Totholz im Wald» detailliert auf. Es ging aus den Resultaten des WSL-Projekts «Dynamik von Totholz und xylobionten Insekten in Waldreservaten» hervor, das von 2009 bis 2014 lief. Zum Beispiel können sich die Larven des stark gefährdeten Zimmermannsbocks (Acanthocinus aedilis) nur unter der Rinde von toten, aber noch frischen Föhren in warmen, tiefen Lagen entwickeln. Der Dreizehenspecht hingegen lässt sich nur nieder, wo es mindestens 18 m3 stehende, dürre Nadelbäume pro Hektare gibt. Der Bund fördert seit kurzem Alt- und Totholz durch Finanzhilfen: Wer in Wirtschaftswäldern sogenannte Altholzinseln einrichtet, also Orte, an denen besonders dickes oder altes Totholz stehen bleiben darf, und Habitatbäume bis zum Zerfall stehen lässt, bekommt Geld. Diese «Trittsteine» sollen die grossen Dis­tanzen zwischen einzelnen Waldreservaten überbrücken und auch wenig mobilen Arten eine Chance bieten, sich auszubreiten. Das Merkblatt beschreibt für Waldbau-Praktiker, wie sich dies ökologisch nutzbringend und ohne Gefahren für Arbeiter und Waldbesucher umsetzen lässt.

All den Bemühungen für die Totholzarten wirkt in jüngster Zeit ein starker Gegenspieler entgegen: der Energieholzboom. Biomasse gilt als wichtiger erneuerbarer Energieträger. «Weil dabei auch Holz minderer Qualität verwendet werden kann, könnte sich die Zunahme an Totholz verlangsamen oder umkehren», befürchtet Wermelinger. Eine neue Studie von Lachat weist nach, dass Totholzinsekten gerne Energieholzhaufen besiedeln, die bis zur Verarbeitung einen Sommer lang liegen gelassen werden. Die WSL prüft derzeit, ob dies ein Problem für den Erhalt der Käfer im Wald darstellt und erarbeitet Tipps für die Lagerung von Energieholz. (Beate Kittl, Diagonal 1/17)

 

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