Ganz weit weg und doch nie allein

19.02.2020 | Logbuch

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Auf einer Forschungsfahrt wie der MOSAiC-Expedition weiss immer jemand, wo man gerade ist – aus Sicherheitsgründen. Wie sich das anfühlt, erzählt SLF-Mitarbeiter Matthias Jaggi in diesem Blog. Und auch davon, weshalb er auf dem Bauch über den Schnee robbt und wie man einen Polarfuchs davon abhält, wichtige Kabel anzuknabbern.

Herzliche Grüsse aus «Alcatraz»! Entkommen ist unmöglich, auch wenn man sich mal ein bisschen Einsamkeit wünscht. Das mag vielleicht merkwürdig klingen, da man ja abgelegener fast nicht sein kann – man ist aber immer mindestens zu zweit. Und einer von beiden trägt eine halbgeladene Waffe am Rücken. Um nicht einen falschen Eindruck von meiner Gemütslage zu vermitteln: Es geht mir bestens und die Zeit vergeht wie im Fluge. Trotzdem freue ich mich wieder auf meine Freiheiten zuhause. Denn hier weiss eigentlich zu jeder Zeit jemand, wo man ist, was man macht und wie lange man dafür braucht.

Beim Verlassen des Schiffes meldet man sich beim Pförtner an der Gangway ab. Vergisst man das Zurückmelden, dann wird man spätestens um 11:30 Uhr beziehungsweise um 17:30 Uhr gesucht und über den Schiffslautsprecher ausgerufen. Zusätzlich trägt man sich online ein. Quittiert man den Feldausflug nicht vor dessen Ablauf mit «Safe Return», dann geht an jedem «öffentlichen» PC auf dem Schiff ein akustischer Alarm los. Dadurch kriegt es der Hinterste und Letzte mit. Berechtigt ist die Überwachung allemal, sie dient natürlich ausschliesslich der Sicherheit.

Schwitzen im Polaranzug

Auf dem Eis sind wir unterdessen ein eingespieltes Team. Die Vorbereitungen, um ein Schneeprofil aufzunehmen, beginnen bereits am Vorabend mit dem Packen des Schlittens. Mit Packlisten stellen wir sicher, dass nichts vergessen geht. Am Morgen findet um 8:30 Uhr eine 10-minütige Besprechung statt, in der wir noch Programmänderungen einbringen können. Dann heisst es runtergehen aufs E-Deck, Funk und Wurfleine holen, Bekleidung nach dem Zwiebelschalensystem anziehen, den richtigen Schlitten schnappen und nichts wie raus, bevor man vor Überhitzung umkippt. Der «Bärenwächter» der Gruppe holt sich noch die Flinte und Leuchtgeschosse, mit denen Eisbären abgeschreckt werden, falls sie denn auftauchen. Dann wieder zurück zur Gangway, welche um 9 Uhr heruntergelassen wird. Weil das morgendliche Zeitfenster für die Feldarbeit bis 11:30 Uhr eher knapp ist, muss alles ein bisschen ruckzuck gehen. Material wird auf den Motorschlitten gebunden und zu einer der ausgewählten Schnee-Beprobungsflächen gefahren.

Diese sind natürlich nicht zufällig ausgewählt. Im Vorfeld hat man versucht, die vorkommenden stratigraphischen Muster zu eruieren. Das ist zum Beispiel eine Schneedecke auf einjährigem Eis, eine auf mehrjährigem Eis oder eine Schneedecke auf einem Spalt im Eis, der sich einmal geöffnet hatte und dann wieder zugefroren ist. Im Turnus fahren wir diese verschiedenen Stellen ab und nehmen mit einem Schneeprofil den physikalischen und chemischen Zustand der Schneedecke auf.

Der Schnee wird durchleuchtet

Zuerst fotografieren wir die Schneeoberfläche aus verschiedenen Winkeln. Die Fotos werden später photogrammetrisch ausgewertet und geben uns einen Wert für die Oberflächenrauigkeit. Dann folgen die Messungen mit dem SnowMicroPen, einem Instrument, das den Eindringwiderstand misst. Dann geht’s ans Buddeln. Ja, schön wäre es!! Nachdem das halbe Schaufelblatt in den Schnee reingerammt ist, leistet bereits der Boden, beziehungsweise das Eis, Widerstand. Die Mächtigkeit der Schneedecke ist momentan noch gering: Wir müssen uns an Profilhöhen von 8 bis 30 cm erfreuen.

Das Schneeprofil beleuchten wir mit Licht im nahen Infrarotbereich und schiessen dann ein Foto. Daraus können wir Informationen zur Mikrostruktur des Schnees ableiten. Dann folgt ein weiteres Dichteprofil. Und als krönenden Abschluss bohren wir mit Hohlbohrern Schneeproben frei, die wir mit grösster Vorsicht zurück aufs Schiff transportieren und dann mit dem Computertomographen untersuchen. Ausserdem nehmen wir in Plastikröhrchen Proben für chemische Analysen, unter anderem von Russ, Mikroplastik, Salzgehalt, Iod, dem Sauerstoff-Isotop O18 und Nitrat.

Auf dem Bauch übers Eis robben

Auf alle Fälle liegen wir da während einer Stunde auf dem Bauch vor diesem Schneeprofil, robben mal links, mal rechts, streifen mit dem Handschuh den triefenden Rotz von der Nase, versuchen irgendwelche Notizen in das flatternde Feldbuch zu machen, fluchen, missbrauchen die Instrumente durch Anwendung milder Gewalt, wenn es nicht auf Anhieb klappt, und so weiter und so fort. Auch wenn das von aussen betrachtet vielleicht etwas affig aussehen mag, das gewonnene Verständnis über die physikalisch ablaufenden Prozesse in diesen arktischen Schneedecken soll in Zukunft der Verbesserung von Klimamodellen dienen. Logisch, es ist nicht nur der Schnee, sondern auch das Eis, der darunterliegende Ozean und die sich darüber befindende Atmosphäre, welche bei den ganzen Prozessflüssen mitberücksichtigt werden müssen. Und deshalb findet die MOSAiC-Expedition statt – um den Einfluss der Arktis auf das globale Ökosystem zu verstehen. Ganz schön ambitioniert …

Ein Kabel-Feinschmecker

Übrigens: Der Polarfuchs, der schon einmal da war, kam nochmals auf Besuch. Es hat sich herausgestellt, dass er ein Kabel-Feinschmecker ist. Einige Datenkabel waren komplett durchgebissen und wenige Stromkabel so angekaut, dass gerade noch kein Kurzschluss passiert ist. Er konnte überführt werden, weil er sich zum Ausruhen neben dem Schiff in ein Windloch gelegt hat und man auf den Fotos mit den Teleobjektiven blaue und orange Plastikspänne in seinem Fell am Kopf ausmachen konnte. Die ersetzten Kabel haben wir mit Diesel getränkten Lappen eingerieben (schmeckt wahrscheinlich so wie Kaffee mit Assugrin gesüsst), was offensichtlich als Abschreckung genützt hat.