200 Steine in 12 Tagen

Steine rollen im Dienste der Wissenschaft: SLF-Forschende untersuchen die optimale Schutzwirkung von Wäldern vor Steinschlag und den Effekt von Totholz.

Bereits im 14. Jahrhundert verbot man in gewissen Wäldern das Roden, da man erkannt hatte, dass der Wald vor Lawinen schützt. Doch Wälder schützen auch vor Steinschlag, die aufgrund des Klimawandels zusammen mit anderen gravitativen Naturgefahren wie Lawinen, Murgang und Felsstürze in den Alpen zunehmen dürften.

Hightech-Steine in steilem Gelände

«EOTA221, 200kg. 3, 2, 1 - Go», bevor SLF-Forscher Andrin Caviezel den Stein mit Händen und Füssen ins Rollen bringt, benennt er Form und Grösse des Steins. Unten an einem sicheren Ort wartet Steinschlagexperte Adrian Ringenbach mit seinen Kollegen gespannt, ob und wie der Stein ankommt. Von jedem Stein wird der Ablagerungsort vermessen. Nicht alle Steine schaffen es bis an den Hangfuss, dann heisst es hinaufkraxeln ins sehr steile Gelände, das durchschnittlich eine Neigung von 37° aufweist, einzelne Abschnitte sind sogar über 50° steil. «Bereits das Einmessen war eine Herausforderung», so Doktorand Adrian Ringenbach, «mit zwei Messteams konnten wir aber die Effizienz steigern».

Bei den Experimenten im Schraubachtobel in Schiers (GR) auf 760 m ü.M. wurden dieselben Steine wie bei den Steinschlagexperimenten am Flüelapass verwendet. Die Betonsteine, in der SLF-Werkstatt hergestellt, beinhalten Sensoren, die die Rotationsgeschwindigkeit und die Aufprallbeschleunigung in hoher zeitlicher Auflösung messen. Zusammen mit den Videobildern der am Hang installierten Kameras können die Flugbahnen der Steine komplett rekonstruiert werden. 

Im Gegensatz zu den Experimenten am Flüelapass war bei den Experimenten im Schraubachtobel die Sicht auf die Flugbahn wegen des Waldes sehr eingeschränkt. Ein Filmen vom Gegenhang ist nicht möglich, deshalb wurden auf der 280 m langen Strecke insgesamt 14 Kameras installiert, die nahtlos die Flugbahn der Steine aufnahmen. Zuvor wurde der gesamte Hang in der Sturzbahn mit hochaufgelöstem LiDAR vermessen (siehe Film/Foto). Insgesamt wurden ca. 200 Steine, mit und ohne Sensoren bestückt, in der Grösse von 30-800 kg während 12 Experimenttagen den Hang hinuntergeworfen.

Barrieren- und Tunneleffekt

Die Versuche hatten primär zwei Ziele. Erstens, welchen Einfluss hat die Steinform bei bewaldeten Flächen auf die Flugbahn und die Ablagerungsfläche? Zweitens, welchen Effekt hat die Waldstruktur und insbesondere liegendes Totholz? Im Bereich der Sturzbahn lagen mehrere Baumstämme, vor allem Fichten, die vom Sturm Burglind im Januar 2018 umgeworfen wurden.

In sechs Experimenten im Sommer und Herbst 2019 konnte zunächst der Barriereneffekt von liegenden Bäumen gemessen werden, wobei sich ein Baumdurchmesser von 30-59 cm am effektvollsten erwies. Ebenfalls wurde ein Tunneleffekt beobachtet: Diverse Baumstämme lagen wegen tragfähiger Äste oder kleineren Mulden nicht komplett auf dem Boden. Kleinere Steine konnten so teilweise unter den Stämmen durchrollen. Dies führte zu unerwarteten Ergebnissen: kleinere Steine (45 kg) kamen weiter hangabwärts zum Stillstand als mittelgrosse Steine (200 kg).

Erstaunliche erste Ergebnisse

Im Dezember 2019 wurde dann das Totholz aus dem Hang geflogen und die ersten Experimente ohne Totholz konnten im April 2020 durchgeführt werden. Fazit: Radförmige Steine kamen im Durchschnitt weniger weit als würfelförmige Steine. Ein erstaunliches Ergebnis, da die Experimente am Flüelaplass bisher genau das Gegenteil zeigten: Dort hatten die radförmigen Steine tendenziell einen weiteren Auslauf, sicherlich aber eine grössere laterale Streuung. Der Längenrekord erreichte zwar auch in Schiers ein radförmiger Stein, die Mehrzahl dieser Steinformen stoppte aber im oberen Hangbereichen. «Dies erklären wir uns dadurch, dass der Stein durch den Aufprall auf Bäume aus seiner Rad-Konfiguration gebracht wird. Sobald er dann flach auf dem Boden rutscht, vermag es ihn üblicherweise durch die erhöhte Reibung zu stoppen», so Adrian Ringenbach. Würfelförmige Steine rollten nach einem Baumkontakt, wenn auch verlangsamt, weiter.

Totholz und aufgestellte Wurzelteller hatten wie angenommen eine grosse Wirkung, so wurden deutlich mehr Steine hinter liegenden als hinter stehenden Stämmen abgelagert. Insbesondere bei den würfelförmigen 800 kg-Steinen war das Resultat deutlich: Während mit Totholz nur vier von zehn Steinen bis zum Hangfuss kamen, waren es ohne Totholz neun von zehn. Für kleinere Steine ist das Ergebnis etwas weniger deutlich. «Wir vermuten, dass dies an der etwas geringeren Hangneigung und der Bodenrauhigkeit liegt, die im Bereich der geräumten Stämme auch nach deren Entnahme etwas erhöht ist. Denn mehrere kleinere Steine stoppten auch ohne die liegenden Stämme im Bereich, wo zuvor das Totholz lag», so der 33-jährige Doktorand.

Die gewonnen Daten dienen zur Kalibrierung der Software RAMMS, mit der Lawinen, Steinschlag und Murgang simuliert werden können. Die Forschungsergebnisse geben wertvolle Hinweise, wo und wieviel Totholz im Wald belassen werden sollte, um eine möglichst effiziente Schutzwirkung und Pflege des Waldes zu erreichen.

Enorme Sprunghöhe eines radförmigen Steins. Der Ursprung davon liegt in der hohen Geschwindigkeit, die der Stein vor dem Sprung in der ehemaligen Totholzsektion erreicht. Video: A. Ringenbach, SLF

Grund, weshalb die radförmigen Steine im Mittel einen kürzeren Auslauf haben: Nach einem Treffer mit einem stehenden Baum wird der Stein aus der Rad-Konfiguration geworfen. Flach am Boden gleitend ist dann die Reibung zu hoch und der Stein stoppt in der ehemaligen Totholzsektion. Video: A. Ringenbach, SLF

Wir danken der Gemeinde Schiers für das zur Verfügungstellen des Waldes für die Experimente.

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