God da Tamangur: Die Geschichte eines symbolträchtigen Waldes

Der höchstgelegene, geschlossene Arvenwald Europas, der God da Tamangur im Unterengadin, diente als Projektionsfläche für verschiedenste Anliegen. Im letzten Jahrhundert hat sich der Wald stark verändert. WSL-Forschende stellen seine Geschichte – und Faszination – in einem neu erschienen Bericht vor.

Tamangur

Aintasom S-charl (ingio sun rafüdats
tuots oters gods) sün spuonda vers daman,
schi varsaquants veidrischems dschembers stan
da vegldüm e strasoras s-charplinats.
Tröp sco l‘ingual nu‘s chatta plü ninglur,
ultim avanz d‘ün god, dit: «Tamangur». (…)
Peider Lansel

 

Tamangur

Ganz hinten im Scarltal, wo alle andern Wälder
aufhören, auf dem Abhang gegen Morgen, stehen viele
uralte Arven, von der Zeit und von den Stürmen
zerfetzt. Es ist eine Schar, wie man sie nirgends trifft;
der letzte Rest eines Waldes, genannt Tamangur. (…)
Übersetzung durch Andri Peer

Ein lockerer Wald aus mächtigen, wettergegerbten Arven. Einige der mehrere Hundert Jahre alten Bäume sind bereits abgestorben; ihre verdrehten Äste und silbergrauen Stämme ragen kahl in den Himmel. Holzreste liegen am Boden. Ein den Naturgewalten der Alpen und dem Tod trotzender Verband uralter Arven, ein Wald aus mächtigen Einzelbäumen – so wirkte der God da Tamangur im Unterengadin, am Ende des Val S-charl auf 2300 Metern Höhe, über Jahrhunderte. Und diente damit Dichterinnen und Dichtern, Patrioten und Forstleuten, Kunstschaffenden und Naturschützern als Inspiration und Symbol – für den Tod wie für die Widerstandskraft und die Schönheit der Natur.

«Dabei starb der Wald gar nicht, auch wenn es für manche so aussah», sagt WSL-Forscher Matthias Bürgi. «Arven werden uralt. Er verjüngte sich nur nicht, weil er als Waldweide diente und das Vieh nachwachsende Bäume auffrass.» Der Forscher und seine WSL-Kollegin Susan Lock sind der Geschichte des God da Tamangur nachgegangen und haben sie im neu erschienenen WSL-Bericht «God da Tamangur – ein Wald und seine Geschichte(n)» zusammengefasst. Sie nutzten dafür Quellen, die von alten Forstberichten über Fotografien bis zu Interviews reichen.

Dem Kahlschlag entgangen

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Arve im God da Tamangur. (Foto: Susan Lock)
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Zwischen den alten und den abgestorbenen Arven wachsen heute wieder junge Bäumchen. (Foto: Susan Lock, WSL)
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Abgestorbene Arven sind sehr witterungsbeständig. (Foto: Susan Lock)
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Totholz im God da Tamangur. (Foto: Susan Lock)
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Der God da Tamangur heute. (Foto: Markus Bolliger)
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Piz Chambrina-Süd I rechts, 1936, Terrestrische Aufnahmen 000-374-395, 396. (Foto: © swisstopo). Die Panoramen wurden mittels KI-gestützter Bildausrichtung zusammengesetzt und geometrisch aufeinander abgestimmt.
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Piz Chambrina-Süd I rechts (Foto: Susan Lock). Die Panoramen wurden mittels KI-gestützter Bildausrichtung zusammengesetzt und geometrisch aufeinander abgestimmt.

Der rätoromanische Dichter Peider Lansel war einer, der das mächtige Bild der sterbenden Baumriesen nutzte. Sein Gedicht «Tamangur» (s.o.) endet mit den Worten: «Rettet mit eurer Liebe unsere Sprache vor dem Schicksal von Tamangur!» Dass der Wald damals allerdings überhaupt noch existierte, dürfte laut den Forschenden der Unzugänglichkeit seines Standortes zu verdanken sein: «Im Tal gab es ein Blei- und Silberbergwerk», erzählt Bürgi, «für das die ganze Umgebung kahlgeschlagen wurde.» Der God da Tamangur sei diesem Schicksal wohl entgangen, weil es nicht möglich war, die mächtigen Stämme bis dorthin zu transportieren.

So blieben seine Arven stehen und konnten als Projektionsfläche für die verschiedensten Anliegen dienen. So auch für den Naturschutz. Die landschaftliche Schönheit seiner Lage, die Seltenheit eines reinen Arvenwaldes, seine Faszination – «Der God da Tamangur wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Standort eines Schweizerischen Nationalparks propagiert», berichtet Bürgi. Das wurde er zwar nicht, aber 2007 zum Naturwaldreservat erklärt. Die Waldweide, die ihn über Jahrhunderte geprägt hatte, war bereits in den Jahrzehnten zuvor stark zurückgegangen, was das Aufkommen junger Bäume begünstigte.

Dadurch hat sich das Bild des Waldes drastisch gewandelt, wie eine Reihe eindrücklicher Vorher/Nachher-Fotografien im Bericht zeigen: Der God da Tamagur präsentiert sich heute als lebendiger, geschlossener Bestand, in dem junge Arven verschiedenster Altersklassen zwischen den uralten Riesen wachsen. Der Wald und die ihn umgebende Landschaft werde sich weiter verändern, schreiben die Forschenden, etwa weil sich die Nutzungsansprüche wandeln, und die Klimaerwärmung Spuren hinterlassen werde. Es sei zu hoffen, dass der God da Tamangur, seine Schönheit und Faszination erhalten bleibe, um weitere Generationen zu inspirieren.

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