Alpenpflanzen im Klimawandel: Lücken im Mosaik der länderübergreifenden Schutzgebiete

Der Klimawandel wird die Verbreitungsgebiete von Alpenpflanzen ändern. Dem muss die Planung von Schutzgebieten Rechnung tragen. Eine internationale Studie unter Co-Leitung der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL und der ETH Zürich zeigt auf, wo die Alpenländer neue solche Gebiete einrichten sollten, um die Biodiversität der Region am besten zu bewahren.

Die Alpen sind eine der grössten weitgehend naturbelassenen Regionen Europas. Sie beherbergen allein 4500 Pflanzenarten – ohne die Moose mitzuzählen –, und damit etwa ein Drittel der gesamten Flora Westeuropas. 400 dieser Gewächse leben ausschliesslich in den Alpen. «Das zeigt, wie wichtig dieses Gebirge für die Biodiversität Europas ist», sagt Yohann Chauvier-Mendes. Der Ökologe hat an der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL gemeinsam mit einem internationalen Team von Forschenden untersucht, wie das Mosaik an geschützten Gebieten in den Alpen über alle sieben Alpenländer hinweg aussieht und wo es ergänzt werden müsste, um diese biologische Vielfalt jetzt, aber auch in Zukunft zu bewahren.

Denn der Klimawandel bedeutet, dass viele Pflanzen wandern müssen, um auch in Zukunft geeignete Bedingungen vorzufinden, in den meisten Fällen in die Höhe. Das bedeutet, dass viele von ihnen ihr Verbreitungsgebiet verändern werden und sich dabei möglicherweise aus Schutzgebieten heraus oder in solche hinein bewegen. Zudem beeinflusst der Klimawandel die landwirtschaftliche Nutzung der Region, was sich ebenfalls auf die Verbreitung der Alpenpflanzen auswirkt, zum Beispiel wenn der Wald aufgegebene Weiden überwächst. Durch solche Klimawandelfolgen könnten zurzeit geschützte Gebiete an Bedeutung verlieren oder ausserhalb von ihnen neue Biodiversitäts-Hotspots entstehen. Landesgrenzen spielen in diesem Prozess keine Rolle.

Digitale Karten zur alpinen Biodiversität

Um herauszufinden, wie sich die Biodiversität der Alpenregion verändern wird, und um eine optimale Verteilung von Schutzgebieten planen zu können, damit sie – schon jetzt – mehr Artenvielfalt umfassen, erstellten die Forschenden digitale Verbreitungskarten einzelner Pflanzenarten.  Zum einen unter heutigen Klima- und Landnutzungsbedingungen, zum anderen unter solchen, die für die Jahre 2050 und 2080 erwartet werden. «Wir haben dabei erstmals in einer solchen Untersuchung nicht nur die Anzahl von Arten betrachtet, sondern auch, wie einzigartig jede einzelne in Bezug auf ihre genetische Geschichte und ökologische Rolle ist», erklärt WSL-Ökologe Niklaus Zimmermann, einer der leitenden Autoren der Studie.

In diese Karten trugen sie bereits existierende Schutzgebiete ein, deren Schutzstatus demjenigen des Smaragd-Natura 2000 Netzwerks und den Kategorien I und II der Weltnaturschutzunion (IUCN) entspricht – zum Beispiel den Schweizer Nationalpark. Hiervon ausgehend ermittelten sie dann mit Hilfe von Naturschutzplanungs-Simulationen Gebiete, die den Schutz der Pflanzen-Biodiversität im Alpenraum am besten erweitern und ergänzen – jetzt, 2050 und 2080.

Die Schweiz und die Seealpen am stärksten betroffen

Dazu ergänzten und erweiterten die Forschenden das Mosaik der Schutzgebiete von 18 auf etwa 35 Prozent der Alpenfläche. Grundlage hierfür war das am 15. Biodiversitätskongress der Vereinten Nationen vereinbarte 30 by 30-Ziel (30 Prozent der Landfläche, in diesem Fall der Alpen, stehen bis 2030 unter Schutz; siehe Kasten). «In allen Simulationen waren der Mittelmeerraum und die Schweizer Alpen die Gebiete, die am meisten zusätzlichen Schutz benötigten», sagt Chauvier-Mendes.

«Gemäss unseren Simulationen müsste die Schweiz über den gesamten Höhegradienten die meisten neuen Flächen einrichten, da wir im Vergleich zu unseren Nachbarn insgesamt am wenigsten davon haben», so der Wissenschafter. «Nur zwei Prozent des bestehenden Schutzgebiete-Mosaiks von streng geschützten Gebieten befinden sich in der Schweiz.» Allerdings gibt es hierzulande eine Reihe von Flächen, die zwar unter Schutz stehen, aber nicht in die strikten IUCN-Kategorien I und II fallen. «Dazu gehören zum Beispiel grosse Jagdbanngebiete, Waldreservatsflächen oder die oft kleineren kantonalen Schutzgebiete, die für den Biodiversitätsschutz sehr wertvoll sind», sagt Zimmermann.

Bessere Koordination nötig

In den anderen Ländern sind es demnach vor allem bestimmte Höhenlagen, die mehr Schutzgebiete benötigen, wie die mittleren Höhenlagen in Österreich und die Tallagen in Frankreich und Deutschland. In diesem Zusammenhang zeigt die Analyse einen weiteren, wichtigen Punkt auf: «In den Alpen müsste der Schutz länderübergreifend koordiniert werden, damit er optimal wirkt», betont Chauvier-Mendes, der mittlerweile an der Eawag arbeitet, dem Wasserforschungsinstitut des ETH-Bereichs. Das sei zurzeit nicht für alle Alpenländer der Fall – was sich nach Ansicht der Forschenden ändern sollte.

Die Forschenden wollen ihre Untersuchung nun erweitern: «Wir haben nur analysiert, wo es zusätzlich zu den bestehenden Schutzgebieten neue braucht, um die Biodiversität in der Region auch 2050 und 2080 zu schützen», erklärt Zimmermann. «Wie man die wichtigsten Knotenpunkte entlang geeigneter Migrationsrouten von Pflanzen am besten schützt, um deren Wanderung unter veränderten Klimabedingungen zu sichern, haben wir in den bisherigen Analysen nicht untersucht. Das wollen wir nun in einem weiteren Projekt angehen.»

Das Schlagwort «30 by 30» fasst das dritte der 23 Ziele des Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework zusammen: Demnach sollen bis 2030 mindestens 30 Prozent der Land-, Küsten- und Wasserflächen der Erde durch Schutzgebietssysteme und andere «wirksame gebietsbezogene Erhaltungsmassnahmen» geschützt werden. Der «Globale Biodiversitätsrahmen von Kunming-Montreal» wurde von den Vertragsparteien des Übereinkommens über die biologische Vielfalt auf der 15. Biodiversitätskonferenz der Vereinten Nationen in Montreal angenommen. Das «30 by 30»-Ziel betont unter anderem auch die Vernetzung von Schutzgebieten und deren Einbindung in grössere Landschaften. Die in den Kantonen angelaufende Planung der «ökologischen Infrastruktur» dient diesem Ziel.

Kontakt

Copyright

WSL und SLF stellen Bild- und Tonmaterial zur Verwendung im Rahmen von Pressebeiträgen im Zusammenhang mit dieser Medienmitteilung kostenfrei zur Verfügung. Eine Übernahme dieses Materials in Bild-, Ton- und/oder Videodatenbanken und ein Verkauf des Materials durch Dritte sind nicht gestattet.